Wie geht Engagement? : Weltretter-Macke
Wenn unser Kolumnist zu Fuß durch Berlin geht, muss er immer drei Stücke Abfall vom Bürgersteig aufheben und in einen Mülleimer werfen. Es ist wie ein Zwang. Aber was steckt dahinter?
Der Dreck ist überall, aber damit kann ich umgehen, denke ich und gehe voran.
Mein Bruder ist aus Hamburg zu Besuch und wir sind gerade auf dem Weg zu einer Lesung. Auf dem Weg liegen Plastikbecher, Zigarettenschachteln und Chipstüten.
“Was machst du da?”, fragt mich mein Bruder, als ich drei von diesen Gegenständen in den Händen halte. “Ach nichts”, sage ich so nervös wie jemand, der im Klassenzimmer beim Spicken erwischt wird und werfe alles eilig in den Mülleimer neben uns.
Als wir bei der Lesung sind, fällt mir auf, dass ich diese Aufräumaktionen sonst fast immer unbemerkt erledige. Dafür so gut wie täglich.
Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.
Boks, 27, wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.
Fuentes, 29, wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und war bis Januar 2023 taz Panter Volontärin.
Mindestens drei Sachen muss ich wegwerfen, auf meinen Wegen zur S-Bahn oder zum Bus. Es ist wie ein Zwang.
Nur habe ich mir nie so wirklich Gedanken gemacht, warum das so ist.
Dann liest der Autor eine Stelle aus der Sicht eines Depressiven, der sich fragt, wieso manche Menschen ab einem bestimmten Alter freiwillig in der Welt bleiben, da doch alles bergab geht, und ich notiere mir seine Sätze in mein Handy.„Sag mal, ist eigentlich alles okay?”, fragt mich mein Bruder, als wir wieder nach Hause gehen. „Der Typ hat super lustige Sachen gelesen, wieso schreibst du dir ausgerechnet diesen super deprimierenden Teil auf?”„Weil es zum Müllsammeln passt”, sage ich. „Ich will nicht akzeptieren, dass man dem Elend einfach ausgeliefert ist.”„Ach so”, antwortet er.
Hedonismus ausgleichen
Okay, eigentlich laufen wir gar nicht. Die Wartezeit auf den Zug erschien uns schrecklich lang. Wie zwei zuckerarm ernährte Kinder auf Klassenfahrt gehen wir in trauter Gemeinschaft jedem Impuls nach, der uns vor Langeweile bewahrt. Also haben wir uns ein Mietauto genommen, da wir ganz schnell fernsehen und Essen bestellen wollen – aus Angst, dass der Weg aus dem Restaurant zurück den Vibe killt.
Aber auch wenn ich allein bin, lasse ich mir ziemlich oft Essen liefern und fahre ständig Taxi. Manchmal schäme ich mich dafür und habe dann den Drang, in irgendeiner Form ausgleichend zu handeln.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°31: GEMEINSINN
Gemeinsinn gilt manchen als gut gemeint, salonlinks oder nazimissbraucht. Kann und wie kann Gemeinsinn zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen?
Mit Aleida Assmann, Armin Nassehi, Barbara Bleisch, Florian Schroeder, Jagoda Marinić, Wolf Lotter, Heike-Melba Fendel, Florence Gaub, Paulina Unfried, Tim Wiegelmann und Harald Welzer.
Erscheint am 10. Dezember 2024.
„Hast du Trinkgeld?”, fragt mein Bruder, als ich ihm die Online-Speisekarte vorlese.
Ich nicke eifrig, denn das liegt bei mir immer im Flur, damit ich die armen Lieferdienst-Kuriere dafür entschädigen kann, dass sie mich versorgen. Ich denke an meine Freundin Mathilda. Sie hat mir mal erzählt, dass sie ihr schlechtes Gewissen darüber, ihre Wohnung eventuell manchmal zu viel zu heizen, damit beruhigt, vegan zu leben. „Aber ich würde heute doch noch einmal etwas mit Fleisch bestellen”, unterbricht mein Bruder meine Gedanken. „weil, wenn man schon mal bestellt …”
„Ja, klar, das kann ich gut verstehen”, antworte ich schnell.
Ist das Gemeinsinn?
Am nächsten Morgen gehe ich zum Rewe, Frühstück holen. Regional, vegan – naja, zumindest vegetarisch.
Es ist super dreckig und jeden Tag wird es dreckiger. Ichklaube schnell ein Stück Alufolie, eine Styroporpackung und einen Bierdeckel zusammen und werfe ihn in den Müll. Am Kiosk nebenan liegt ein neues taz FUTURZWEI Magazin mit dem Titelthema: Gemeinsinn.
Und ich denke dabei an meinen Urgroßonkel Rudl der auch in einer turbulenten Zeit einen noch akribischeren Helferimpuls verspürt hat. Nach der Wiedervereinigung hat er es sich zur Aufgabe gemacht, dem Elend der streunenden Straßenkatzen in Ostdeutschland ein Ende zu setzen und auf eigene Faust zu helfen. Nur ging es dabei nicht um eine oder zwei, sondern 300 Straßenkatzen, die er in den 90ern und aufgrund einer Unterlassungsklage der Stadt Dresden nur nachts fütterte, sich dafür sogar verschuldete und irgendwann mit seiner Frau massenhaft Essen vorkochen musste, weil er sich kein Katzenfutter mehr leisten konnte.
Auf meinem Handy trudeln Nachrichten meiner Freund:innen ein, die ich gestern nach etwaigen Müllsammel-Tick-Momenten befragt habe.
Gleich mehrere schreiben davon, auch immer Bargeld zur Seite zu legen um es Obdachlosen zu geben, und klar weiß ich von den meisten, dass sie sich auch Demotermine schicken, Petitionen teilen, Spenden – aber hier geht es um die Alltagsmomente.
Die, in denen man glaubt, die Welt ganz nach eigener magischer Logik mitzusteuern.
Jedenfalls scheint sich keiner von ihnen über mein Anliegen zu wundern. Einer schreibt mir sogar, selbst diesen Drang zu spüren und außerdem in Supermärkten oder Buchläden immer die Regale zu sortieren.
Manche wollen auf die Erziehung vonKindern als spontanes Vorbild einwirken, in dem sie vor wirklich jeder roten Ampel stehen bleiben, selbst wenn niemand in der Nähe ist. Auffällig viele schreiben davon,umgeworfene E-Roller aufzuheben oder Mülltonnen an den Straßenrand zu stellen, damit keine Rollstuhlfahrer:innen oder andere Verkehrsteilnehmer:innen darüber stürzen.
Zwar sind das alles unterschiedliche Angewohnheiten, denke ich, aber vielleicht geht es bei allen um den Versuch, im Rahmen des Alltags auch etwas für die Gesellschaft zu tun. Als wäre die Welt eine kleine WG-Küche, in der in eigener Kontrolle aufgeräumt und umweltbewusst gekocht werden kann.
Stress der Kühe
Natürlich läuft das auf größerer Ebene anders. Man kann nicht alle E-Roller in Berlin ständig sicherheitsgemäß aufstellen und man kann durch das Warten vor einer roten Ampel auch nicht alle Kinder davor bewahren, in ein paar Jahren Nazimusik und Waffen gut zu finden. Und während man seine drei Müllstückchen des Tages aufklaubt, schmeißt irgendwo jemand sein Zeug achtlos auf die Straße oder schießt Raketen auf ein anderes Land, denke ich so vor mich hin, während ich mir vor dem Kühlregal einen möglichst undogmatischen Satz überlege, wieso ich für das Frühstück mit meinem Bruder aus CO2 Emissionsgründen keine Kuhmilch kaufen werde.
„Aber du magst die doch“, wird er vielleicht sagen.
„Ja, aber du weißt doch, wie klimaschädlich die Rinderzucht ist”, werde ich dann antworten und schon beginnt ein Gespräch, auf das wirklich niemand Lust hat.
Aber jetzt mal ausnahmsweise ehrlich: Genau wie beim Müllsammeln geht es mir weniger um eine bessere Welt, in der Kühe weniger Stress haben, als darum, selbst nicht durchzudrehen.
Ordnung im Weltchaos?
Vielleicht sind vegane Anteile von Ernährung, Müllaufheben und Roller Aufstellen einfach auch Wege, um Ordnung in das eigene Weltchaos zu bringen.
Die Negativreize und die Katastrophenmeldungen, die immer über den guten Nachrichten liegen, können schon dazu führen, dass manche Leute beim Gang durch die Wirren des Alltags ziemlich eigenartig wirken. Denke ich mir so, während ich unter den Mülleimer an der Kreuzung krieche.
Schon krass, was manche Menschen so wegwerfen. Auf dem Heimweg begegne ich einem halb aufgegessenen Burger, einem ganzen Apfelkuchen und ernsthaft: einer halbleeren Packung Macarons auf einer Parkbank. Welche Gefühle stecken hinter diesem Müll? Frust, weil der Partner allein nach Paris gefahren ist? Oder ein Date und die plötzliche Verliebtheit, die alles wichtiger erscheinen lässt als aufzuräumen? Keine Ahnung.
„Sorry, ich habe keine Kuhmilch gekauft“, rufe ich, als ich in die Küche komme, und stelle die Hafermilch auf den Tisch.
„Macht nichts, ich trinke meinen Kaffee eh nur noch schwarz“, antwortet mein Bruder und lächelt mich an. „Bekommt mir einfach besser.“