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taz FUTURZWEI

Harald Welzer über eine neue Kultur It's the Culture, Ökos!

Kultur ist nicht irgendwas mit Ausstellungen und Musik. Die fossile Kultur steckt in jeder Faser unserer Selbst- und Weltwahrnehmung. Wir müssen sie verlernen.

Kultur Foto: Carl Ander

taz FUTURZWEI | Ich fang mal mit ein bisschen Theorie an, wird aber nicht lang. Kultur ist nicht »irgendwas mit Ausstellungen oder Musik«, Kultur ist das Spezifikum der menschlichen Lebensform. Denn diese merkwürdige Spezies Mensch, die sich nach evolutionären oder erdsystemischen Maßstäben möglicherweise nicht allzu lange auf der Erde aufgehalten haben wird, hat ja neben der Natur einen zweiten Raum für ihr Dasein geschaffen: Menschen können miteinander sprechen, sich wechselseitig auf etwas aufmerksam machen, haben jede Menge Techniken und Wissenschaften entwickelt, Traditionen gebildet und noch vieles mehr, was andere Tiere nicht haben und machen. Jedes Neugeborene steigt in die Welt ein, die seine Vorgängerinnen und Vorgänger entwickelt haben, setzt also auf dem kulturellen Niveau an, das die Geschichte vor ihm bereitstellt.

Der Evolutionsanthropologe Michael Tomasello nennt das den »Wagenhebereffekt«: Zwar entwickeln auch manche Gruppen von Tieren Kulturtechniken – zum Beispiel benutzen einige (weibliche) Delfine Schwämme, die sie sich auf ihre Schnäbel stülpen, damit sie sich beim Absuchen des Meeresbodens nicht verletzen. Aber solche kreativen Leistungen werden nicht an die kommenden Generationen, geschweige denn an die gesamte Spezies weitergegeben, sondern verschwinden mit den besonders kreativen Individuen wieder. Anders bei den Menschen: Dort rutscht der Wagenheber nicht wieder nach unten, sondern rastet ein und wird von der nächsten Generation dann auf eine neue Ebene gehievt. Das ist Kultur, und sie sorgt dafür, dass Menschen in einer koevolutionären Entwicklungsumwelt leben – Natur und Kultur bilden beide die Ausgangsbedingungen für ihr künftiges Leben und ihre künftigen Entwicklungsmöglichkeiten.

»NUR WENN WIR DEN ÖKOPOLITISCHEN HANDLUNGSRAUM ALS KULTURELLEN RAUM VERSTEHEN, BETRIFFT DIE NOTWENDIGE TRANSFORMATION DIE MENSCHLICHE WELT.«

Harald Welzer

Das ist eigentlich super, hat aber den Haken, dass der Wagenheber auch mal an einer Stelle einrastet, die unter Überlebensgesichtspunkten nicht so vorteilhaft ist: Wenn etwa eine fossile Kultur entstanden ist, die sich über einige Generationen als vorteilhaft in Sachen Wohlstand, Gesundheit, Bildung und so weiter erweist, prägt diese Kultur dann auch die Vorstellungen, Mentalitäten, Ideale, Psychen, Lebensformen, Geschäftsmodelle, Beziehungsformen und so weiter, und wenn dann die Koevolution so etwas wie die FDP hervorgebracht hat, steht es um das langfristige Überleben der Menschen schlecht. Das nennt man Pfadabhängigkeit, und in der stecken wir jetzt: in einer Klemme, die durch die Folgen von ein paar Jahrzehnten neoliberaler Formatierung der Welt auf der einen Seite und den Folgen von Klimawandel und Artensterben auf der anderen Seite definiert ist.

Deshalb denkt und greift man viel zu kurz, wenn man glaubt, dass das Desaster, das nicht vor uns liegt, sondern in dem wir uns bereits befinden, durch Steigerung des Mitteleinsatzes – Mehr Windräder! Mehr E-Autos! Mehr BIP! Mehr Nachhaltigkeitskonferenzen! – gelöst werden könnte. Wenn Elon Musk, die letzte Ikone unseres untergehenden Kulturmodells, jetzt eine Million Autos pro Jahr in Brandenburg bauen wird, dann sind das noch einmal eine Million Autos mehr pro Jahr zu viel. Dass viele Leute glauben, dass diese Autos gut für das Überleben der Menschheit wären, und besonders Landespolitiker von erotischen Gefühlen im Angesicht all der Gigainvestitionen überfallen werden, ist leider nur der Beleg dafür, wie sich die fossil geprägte Idee in die Mentalitäten gefressen hat. Bis hin zu der bizarren Vorstellung, dass man Probleme, die durch Übernutzung unserer naturalen Lebensbedingungen entstanden sind, durch Steigerung dieser Übernutzung lösen könne. Das Ergebnis solcher Vorstellungen sind LNG-Terminals auf Rügen, die Zerstörung der Welt durch die Absicht, sie zu retten. Mit anderen Worten: Der Wagenhebereffekt kann auch tödlich sein. Mitunter muss man auch mal den Rückwärtsgang einlegen.

taz FUTURZWEI N°26

Die Welt muss wieder schön werden

Wer Ernst machen will, muss verstehen, warum wir nicht gegen die Klimakrise handeln, obwohl wir alles wissen: Ohne Kulturwandel kein Weltretten.

Wir machen Ernst III, Schwerpunkt: Kultur

Mit Annahita Esmailzadeh, Arno Frank, Esra Küçük, Ricarda Lang, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Luisa Neubauer, Robert Pfaller, Eva von Redecker, Claudia Roth, Ramin Seyed-Emami und Harald Welzer.

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Kultur ist Geist

Haha, schon solche Begriffe zeigen, dass die fossile Kultur nichts Äußerliches ist, sondern in jede Faser unserer Selbst- und Weltwahrnehmung eingedrungen sind, also anleiten, wie wir die Welt sehen und was überhaupt von ihr. Culture is the mind! Und so betrachtet ist es eine fossilkulturell entstandene Verkürzung zu glauben, dass Wissenschaft, Technik, die richtige Steuerung von Kapital und am besten noch die überbewertete KI uns schon aus dem Schlamassel herausführen würden. Nein, denn die evolutionäre Aufgabe lautet erstmal: ein Trainingsprogramm zu entwickeln, dass einem beim Verlernen des Falschen hilft. Denn wir werden, besonders seit es die digitalen Konzerne und ihre ganz und gar überlebensfeindlichen Geschäftsmodelle gibt, 24/7 darauf trainiert, Dinge haben zu wollen, die uns bei dem Wunsch im Wege stehen, noch ein paar Generationen in einer enkeltauglichen Welt zu leben.

Eine Entfossilisierungsgymnastik ist ein kulturelles Projekt zur Wiederherstellung des Zusammenhangs der kulturellen, der ökonomischen und der ökologischen Praxis. Dabei geht es nicht um das Wahre, Schöne und Gute als Wahres, Schönes und Gutes, sondern es geht um das Weltverhältnis, das man als humanes Lebewesen überaus sensibel einüben muss, wenn es weitergehen soll. In diesem Weltverhältnis spielen seltsame, weil gar nicht so einfach in Geld verwandelbare Kategorien wie … Resonanz … Schönheit … Vertrauen … Verbundenheit … die wichtigen Rollen. Genauso wie das schlichte Bewusstsein, dass wir als Tiere nicht außerhalb der Naturverhältnisse stehen, sondern immer in ihnen. Das heißt: Die sozialökologische Transformation ist die umfassende Veränderung der koevolutionären Rahmenbedingungen, in denen die menschliche Lebensform dann weitermachen kann: also die kulturelle Transformation.

Unter den gegebenen Bedingungen wird die Menschheit, das betrifft jedenfalls die meisten ihrer Einzelexemplare, ziemlich bald abdanken, und das liegt auch daran, dass die Transformationstheorien und -praktiken eine starke natur- und technikwissenschaftliche Schlagseite haben und menschenwissenschaftlich naiv sind. Nur wenn wir den ökopolitischen Handlungsraum als kulturellen Raum verstehen und uns weit mehr Aspekten des Daseins zuwenden als Treibhausgasmolekülen und Nettoumweltnutzen, betrifft die notwendige Transformation die menschliche Welt. Und nur dann kann sie auch ein Versprechen statt einer Drohung sein.

It’s the culture, Ökos!

Harald Welzer ist Herausgeber von taz FUTURZWEI.

Dieser Beitrag ist im September 2023 im Magazin taz FUTURZWEI N°26 erschienen.