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25.06.2014 , 01:22 Uhr
Euphemismus war das falsche Wort, ich meinte Orwell'sche "Sinnverkehrung". Aufklärung ist nach Kant der Mut und die Fähigkeit, "sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen".
Für JournalistInnen mit alleinigem Welterklärungsanspruch und missionarischem Eifer scheint das ein echtes Problem zu sein. Die Medien haben ja weitgehend die Rolle übernommen, die früher die Kirchen hatten. Was früher die Angst vor der Hölle war, ist heute die Angst vor sozialer Ausgrenzung, Ridikülisierung, Einnehmen einer Minderheitenposition, etc. Damit bringt man die Leute (absichtlich oder unabsichtlich) auf Linie. Das funktioniert wunderbar nach dem Paradigma der operanten Konditionierung. Abweichendes wird sozial sanktioniert, Konformes sozial verstärkt. So kann man nicht nur äußeres Verhalten prägen, sondern auch Denkmuster formen.
Wie massiv sozialer Konformitätsdruck die Realitätswahrnehmung beeinflusst, hat der Sozialpsychologe Solomon Asch mit einem Experiment eindrucksvoll belegt:
http://de.wikipedia.org/wiki/Konformit%C3%A4tsexperiment_von_Asch
Auch Orwell hatte fundierte sozialpsychologische Kenntnisse. Dass Rechte ihn nun für den Kampf gegen alles instrumentalisieren, was sie so alles unter "Political Correctness" verbuchen, bedeutet leider nicht automatisch, dass Orwell heute nicht in vielerlei (anderer) Hinsicht tatsächlich soziale Realität wäre. V.a. in einer immer öffentlicheren Gesellschaft, die zugleich auch immer narzisstischer und damit abhängiger von äußerer Anerkennung wird.
Das alles fällt natürlich denen nicht auf, die ihr Denken übermäßig an sozialen Normen orientieren, um nur ja nicht falsch zu liegen oder Kritik zu ernten. (Man muss davon ausgehen, dass unser aller Denken durch soziale Normen beeinflusst wird - aber die Frage ist, ob wir uns dem passiv ausliefern wollen oder uns aktiv und wie mündige Menschen mit diesen Einflüssen auseinandersetzen wollen.)
zum Beitrag25.06.2014 , 00:50 Uhr
@ Andresjemand:
Das ist ja auch so ein Problem, dieser Trend zur Kurzinformation. Damit werden ja in Zeiten allgemeiner Informationsüberflutung ganze Denk- und Analysegewohnheiten verstümmelt. Kein Wunder, dass die Leute immer dümmer werden und immer mehr Gedanken nur passiv konsumieren, ohne sie zu hinterfragen. Dass das dann auch noch als "Aufklärung" verklärt wird, während schon jeder Hauch von Medienkompetenz und kritischem Hinterfragen als böse, gegenaufklärereische Verschwörungstheorie gebrandmarkt wird, ist ja schon ein Orwell'scher Euphemismus. Man kann an den Montagsdemos vieles kritisieren, auch die Tendenz einiger (!) Leute, die Quelle der Informationen, denen sie blind und unkritisch vertrauen, einfach nur gegen eine andere einzutauschen ("alternative" Online-Medien statt Mainstream). Aber dann bitte nicht so pauschalistsich und so, als ob die alle gleich wären und sich alle am Rande des Wahnsinns bewegen würden. Kein Psychiater würde dermaßen unseriös und stereotyp Ferndiagnosen stellen.
Die erste empirische Studie, die zu den Montagsdemos vorliegt, ergibt ja ein sehr viel komplexeres und differenzierteres Bild. So viel dann also zum Thema "vereinfachende, unterkomplexe Erklärungsmuster".
Ich stimme nicht in allen Punkten mit Ihnen überein, und Ihr Kommentar ist tatsächlich sehr lang, aber dass man mit 2.000 Zeichen ein Thema auch nur halbwegs fundiert erörtern können soll, ist echt eine Beleidigung an die Intelligenz der LeserInnen. Dieser Trend zieht sich aber durch den gesamten Online-Journalismus. Die Einzigen, die längere Gedankenketten formulieren und mit Argumenten unterfüttern dürfen, sind die JournalistInnen. Das ist natürlich auch eine Methode, sich unangreifbar zu machen.
zum Beitrag24.06.2014 , 04:43 Uhr
(Teil 3/3)
Kürzlich wurde die erste empirische Studie zu den Montagsdemos publiziert, die ein eher differenziertes Bild der politischen Orientierung aufzeigt. Über 40% von denen haben die LINKE gewählt (und nur 4% die CDU), und die meisten sind eher überdurchschnittlich politisch gebildet. Auch wenn bei einigen ein Hang zu Verschwörungstheorien erkennbar ist, leider auch zu antisemitischen, trifft das bei Weitem nicht auf alle TeilnehmerInnen zu, wie es in den Massenmedien immer wieder dargestellt wurde. In Bezug auf drei von vier Merkmalen, die rechte Tendenzen und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit erfassen, liegen sie sogar unter dem bundesweiten Durchschnitt.
https://protestinstitut.files.wordpress.com/2014/06/occupy-frieden_befragung-montagsmahnwachen_protestinstitut-eu1.pdf
Mitte der 1990er wurden die Gefahren, die mit der zunehmenden Medialisierung unserer Gesellschaft verbunden sind, noch im Rahmen des Sozialkundeunterrichts in der Oberstufe behandelt. Heute ist man bereits Verschwörungstheoretiker, wenn man ein Mindestmaß an Medienkompetenz zeigt und nicht alles glaubt, was über die Glotze ins Wohnzimmer flimmert. Natürlich bedeutet Medienkompetenz auch nicht, stattdessen alles zu glauben, was in allen möglichen Medien abseits des Mainstreams verbreitet wird. Und einige Leute gelangen genau auf diese Weise tatsächlich vom Regen in die Traufe. Aber viele JournalistInnen sind auch einfach zu narzisstisch, um Kritik an ihrer qualitativ zum Teil schlechten Arbeit überhaupt dulden zu können, ohne reflexhaft mit Schmähungen ihrer Kritiker zu reagieren. Und wenn ich jetzt sage, dass die mediale Massenverblödung, die Scholl-Latour beklagt hat, politisch gewollt ist, und dass es in diesem Land eine Klasse von Leuten gibt, die auch von diesen PISA-Zuständen profitieren, bin ich dann auch Verschwörungstheoretiker? Es ist doch offensichtlich, dass man dumme Menschen, die alles glauben, was ihnen erzählt wird, besser manipulieren kann.
zum Beitrag24.06.2014 , 04:40 Uhr
(Teil 2/3):
Es ist gerade mal ein paar Monate her, da wurde in den heute-Nachrichten die "Behauptung", die Swoboda-Partei sei faschistisch, als reine russische Propaganda bezeichnet und dem linksextremen Spektrum zugeordnet - bis kurze Zeit später Panorama darüber berichtet hat. Zur Neutralität des ZDF in dieser Frage ist auch dieser Link interessant; das ZDF hat die Zusammenarbeit mit einem PR-Netzwerk "gegen russische Propaganda" nämlich selbst zugegeben:
http://www.freitag.de/autoren/lapple08m214/zdf-skandal-berichte-im-auftrag-kiews
(Nicht dass ich Putin jetzt so viel besser fände als die Swoboda, aber einseitig wird eben nicht nur in Russland berichtet. Was im Krieg zuerst stirbt, ist die Wahrheit.)
Auch die Hinweise darauf, dass Geheimdienste uns massenweise ausspionieren, wurden vor Edward Snowden als paranoides Hirngespinst abgetan - und das obwohl Hacker auch davor schon Hinweise darauf hatten. Denen hat nur niemand geglaubt; das waren ja eh alles nur Nerds und Verschwörungsfreaks.
Natürlich gibt es auch wirklich krude und abstruse Verschwörungstheorien - aber die Verschwörungstheorie-Keule wird immer häufiger auch eingesetzt, um kritisches und eigenständiges Denken zu diffamieren, vorzugsweise als Totschlag-Argument eingesetzt von Menschen mit relativ geringem politischem Hintergrundwissen. DAS ist Gegenaufklärung. Einige haben ja längst vergessen, was Aufklärung nach Kant ist; die Fähigkeit und der Mut, "sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen".
Natürlich sind die Massenmedien nicht von oben "gleichgeschaltet" - die Zensur findet in den Köpfen statt, teils aus gruppendynamischen Gründen, teils aus Angst um die eigene Reputation (weil Schreiber mit abweichenden Meinungen zu bestimmten Themen oft von KollegInnen gemobbt werden), und teils aus Angst um den Arbeitsplatz.
zum Beitrag24.06.2014 , 04:37 Uhr
(Teil 1/3):
Man kann ja an diesen Montagsdemos sicherlich vieles völlig zu Recht kritisieren, v.a. die Rechtsoffenheit einiger Redner und die damit verbundenen Querfront-Vereinnahmungsversuche. Aber bei dem Pauschal-Bashing, das in den Medien betrieben wird, wird doch immer deutlicher, dass die meisten JournalistInnen am liebsten gar keine soziale Bewegung hätten, weil sie trotz Lobbyismus, ESM, TTIP, NSA & Co. immer noch nicht der Ansicht sind, dass mit der Funktionsfähigkeit unserer Demokratie irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte. Man kann das mittlerweile nur noch als politisch naiv bezeichnen; zum Glück teilen die meisten Linken, die ich kenne, diese Einschätzung nicht. Großteile der Massenmedien (weniger die taz) haben die Kritik an den Montagsdemos aber v.a. dazu instrumentalisiert, ihre alleinige Deutungsmacht in Ukraine-, NATO- und EU-Fragen wiederherzustellen, nachdem Gabriele Krone-Schmalz sie im NDR zurechtgestutzt hatte. Und da schreiben sie dann - mit wenigen löblichen Ausnahmen - tatsächlich fast alle dasselbe.
Der Hammer ist dann aber, dass der Autor des Artikels es schafft, die NATO-Geheimarmeen als wahnhaftes Verschwörungskonstrukt abzutun. Da hätte er vielleicht vorher einfach mal nach Gladio googeln sollen; dann hätte er u.a. diesen Wikipedia-Artikel gefunden:
http://de.wikipedia.org/wiki/Gladio
Und dass der Überwachungswahn der NSA faschistoid und eine Gefahr für Demokratie und Freiheit ist, darüber sollte man doch als Linker nicht wirklich diskutieren (auch wenn NS-Gleichsetzungen immer problematisch sind). Der Mensch scheint sich aber sukzessive an alles zu gewöhnen.
Scholl-Latour hat völlig recht, wenn er sagt, dass wir in einer Zeit der medialen Massenverblödung leben.
zum Beitrag