Oszillierend, unverletztlich und agil

Trotz Gegenkampagne von Kulturbehörde und Springer-Presse gelungen: Ostseekunst-Biennale wob vom 7. bis zum 23. Juni dieses Jahres feinmaschiges Netzwerk aus 170 Künstlern aller Gattungen und erprobte innovatives Kuratoren-Konzept

von PETRA SCHELLEN

Es gab keinen Kurator. Keinen Cäsar, keinen Nero, der gottgleich über die anderen geherrscht hätte. Denn autonom sollten die Künstler einander finden, angeregt durch einen „Matching“-Prozess, den die Hamburger Organisatoren der diesjährigen Ostseekunst-Biennale artgenda erdacht hatten. Erprobt wurde so eine völlig neue Form des Kuratierens unter dem Motto „Künstler kuratieren Künstler“.

Hinterfragend, aber nicht explizit provozierend war die vierte artgenda, die 170 Künstler aus Hamburg und den Ostsee-Anrainern zusammenbrachte, gedacht. Und bewirkte doch das Gegenteil: An einer der konzeptionell unspektakulärsten Aktionen, der Durch-die-Luft-Katapultierung des „Bratlings“, bissen sich Springer-Presse und Kultursenatorin Dana Horáková fest. Ein bewusst einäugiger Blick, der die 35 übrigen, teils soziologisch weit interessanteren Projekte ausblendete und sich schließlich auf Klaus-Martin Dencker, in der Kulturbehörde für Kunst im öffentlichen Raum und für die artgenda-Genehmigung verantwortlich, einschoss.

Doch dessen Demontage – sein Vorruhestand im Herbst war wohl Folge jenes Mobbings – blieb Beiwerk angesichts des Ziels, missliebige Kunst zu diskreditieren und über das artgenda-Gesamtkonzept jeden Dialog zu verweigern: das beharrlich gewobene Netz aus Künstlern aller Gattungen, die zweieinhalb Wochen lang Mit-Einwohner Hamburgs wurden, um anti-klischierend zu wirken.

Einen spielerisch-kritischen Blick auf die „Klinik Museum“ gab etwa das Clinic-Projekt frei. Neue Perspektiven auf Hamburg konnte ergattern, wer Jan Dvoraks Stuhl-Parcours folgte, zu dem Künstler Soundtracks komponiert hatten. Die Arbeit im Kollektiv stand im Zentrum der artgenda, die Entblätterung und Neudefinition von Lebensformen, festgemacht am Thema Wohnen, dem sich auch Dramatiker René Pollesch in seiner Theatersoap world wide web slums anno 2001 am Schauspielhaus widmete. Privatwohnungen wurden im Rahmen der NoRoom Gallery von Künstlern betanzt. Aus T-förmigen Stahlplatten Wohneinheiten zu schaffen, die leicht zusammenzubauen, aber trotzdem individuell wären, war Anliegen des Blockbau-Projekts.

Essgewohnheiten nahm das Combat Kitchen Camp unter die Lupe, bei dem ungemein sättigende Militär-Rationen verteilt wurden. Und dann gab‘s noch Konzerte, ein Fairytale Banquet im Zauberschloss – Projekte, die die Hamburger „Paten“ erdacht und ins Internet gestellt hatten, worauf sich Ostsee-Künstler zur Teilnahme meldeten. Oszillierend und ständig in Bewegung wie eine Amöbe (so auch ein Projekttitel) bewegte sich vom 7. bis 23. Juni die artgenda durch die Stadt, bespielt in wechselnden Konstellationen. Und vermutlich war es dies, was die bürgerliche Öffentlichkeit am meisten störte: dass für Projekte keine Individuen, sondern die Concept Conference verantwortlich war und dass keine Werke herauskamen, die man zum Stolze Hamburgs hätte präsentieren können.

Andererseits ist es genau dies, was solche Aktionen agil und unverletzlich macht: die Tatsache, dass der allmächtige Kurator in gewissen Segmenten des Kunstbetriebs ausgedient hat und dass sich nicht orten lässt, wie und wo es weitergeht. In Hamburg aber vermutlich nicht: Denn nach dieser Erfahrung werden innovative Künstler, die ungestört arbeiten wollen, künftig lieber nach Berlin ausweichen.