wir lassen lesen : Die ganz eigene Welt des Ruhrpottfußballs
Vierpfündige Fundgrube
Es war ein trister Sonntag tief im letzten Jahrtausend und tief im Revier. Der SV Fortuna Bottrop hatte den Erzrivalen Rhenania aus dem Nachbarstadtteil zu Gast, ein trüber Novemberregen prasselte auf den Ascheplatz nieder. Hinter dem Gästetor ragte jäh der Förderturm der Schachtanlage Rheinbaben auf, zweihundert Zuschauer sahen ein Spiel, das fußballerische Höhepunkte auf Seiten der Gastgeber zur Gänze vermissen ließ und sich ihnen doch auf ewig in die Erinnerung einbrennen würde. Später würden sie davon erzählen, dass der Fortunentorwart bei einem Elfmeter mit dem Kopf gegen den Pfosten geprallt war, während der Ball im anderen Eck einschlug, vor allem aber, dass der Rhenane Paul Holz an jenem Nachmittag im Alleingang acht Tore geschossen hatte, was den Fortunen den Garaus machte und ihm, dem Supertalent, einen Vertrag bei Schalke einbringen sollte.
Ich selbst, nach Leibeskräften Fortunenfan, litt nicht nur wegen der Niederlage, sondern vor allem, weil ich nicht auf dem Platz stehen durfte. Nicht etwa verletzungsbedingt, sondern weil mein Vater mir das Fußball spielen verboten hatte. Er, lebenslang Bergmann, hatte für seinen Sohn eine berufliche Laufbahn auserkoren, die sich von der seinen abheben sollte. „Du sollst es mal besser haben“, hieß die schlichte Botschaft. Auf dem Weg nach Schlaraffia wären Verletzungen und artfremde Anwandlungen wie rüde Tritte gegen Bälle und Gegnerbeine in seinen Augen nur hinderlich gewesen.
Solche Fußballgeschichten also schrieb das Ruhrgebiet, das „Land der tausend Derbys“. So heißt auch das Buch aus dem Verlag Die Werkstatt, der uns schon seit vielen Jahren mit Sportbüchern der besonderen Art verzückt. Der Gelsenkirchener Sozialhistoriker Hartmut Hering hat, von einem knappen Dutzend namhafter Autoren aus der Region flankiert, die „Fußball-Geschichte des Ruhrgebiets“ von 1870 bis heute vorgelegt, zwei Kilo schwer und somit jenseits Reich-Ranicki’scher Toleranzgrenzen, eine wahre Fundgrube voll kundiger Texte und gespickt mit mehr als dreihundert historischen Fotos.
Das Buch porträtiert die jeweils eigene Fußballlandschaft so unterschiedlicher Städte wie Herne oder Oberhausen, Bochum oder Dortmund, wobei sich das Geschehen nicht nur auf die Großen fokussiert, sondern verstärkt auch jenen Vereinen nachspürt, die wie Schwarz-Weiß Essen oder der SV Sodingen heute in den Niederungen der Fußballligen ein Schattendasein fristen.
Zudem macht sich das Buch in unterschiedlichen Themenbeiträgen verdient um ruhrgebietstypische Fragestellungen, beschreibt etwa im Kapitel „Engländer, Polen, Schwatte“ den Segen der Zuwanderung wie den zähen Weg der Integration, es widmet sich der Historie der Arbeitersportvereine und dem Stellenwert von Sportwetten ebenso wie dem Verhältnis von Fußball und Presse im Ruhrgebiet.
Und wer schon immer wissen wollte, ob es tatsächlich einen spezifischen Ruhrgebietsfußball gibt, und bislang nur noch nicht zu fragen wagte, wird in einem der Basisartikel mit schlüssigen Antworten versorgt. Die Kurzempfehlung: ein Buch zum Stöbern an verregneten Sonntagnachmittagen und Pflichtlektüre vor einem der vielen Derbys, die das Ruhrgebiet auch heute noch bereithält. Um ein solches handelt es sich laut Hartmut Hering nämlich immer dann, wenn es im Hintergrund eine Geschichte gibt, die die Leute in den Bann und ins Stadion zieht. Dass meine Geschichte nicht Eingang in Herings Buch gefunden hat, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass er sie nicht kannte. Dieses ist denn auch der einzige (verzeihliche) Schönheitsfleck.
REINER LEINEN
Hartmut Hering (Hrsg.): „Im Land der tausend Derbys“. Verlag Die Werkstatt, 2002, € 34,90