Komprimierte Ekstasen

Die Nacht, in der ein DJ mein Leben rettete: Im Internet finden sich immer mehr Sound-Dateien, die einst im Club mitgeschnitten wurden. So bleiben legendäre DJ-Sets für die Nachwelt konserviert

von TILMAN BAUMGÄRTEL

Das Ende der Paradise Garage soll ein rauschendes Fest gewesen sein. Tausende von Anhängern waren gekommen, um Abschied von der legendären New Yorker Diskothek zu nehmen. Und längst nicht alle konnten eingelassen werden, obwohl angeblich an zwei Tagen 14.000 Menschen durch die letzten Saturnalien in der Paradise Garage geschleust wurden. In der Disco, die jahrelang zu den wichtigsten Orten des schwulen Nachtlebens in den USA gehörte, legte der Resident-DJ Larry Levan zwei Tage lang nonstop auf, und das Publikum gab sich auf der Tanzfläche seinem Abschiedsschmerz hin: Erwachsene Männer weinten wie die Kinder oder wälzten sich vor Kummer auf der Tanzfläche.

Das rauschhafte Ende der Paradise Garage ist der Stoff, aus dem die Mythen in Clubland gestrickt sind. Ein manischer Diskjockey, ein fanatisches Publikum, eine ekstatische Party, ein großer Abgang. Die Paradise Garage war einer der wichtigsten US-Clubs, die den Bogen vom schwulen Glamour der New Yorker Disco-Epoche zum Tanzfieber der 90er-Jahre geschlagen haben. Ein Club, der für die bedingungslose Hingabe an Hedonismus und Tanzen-als-Hochleistungssport entworfen worden war, aber auch von Intrigen und Backstabbing im Hintergrund geprägt. Die Anlage der Paradise Garage war so ausgetüftelt, dass die Betreiber des britischen Großdisco Ministry of Sound sie später kauften und über den Atlantik nach England schiffen ließen, wo sie eine neue Generation von Ravern beschallte: ein fast symbolischer Akt, denn die Impulse für die Tanzmusik, die von Disco und der Schwulenszene in den USA ausgegangen waren, entwickelten sich in Europa zu einer neuen Jugendbewegung, die in den späten 80er und frühen 90ern in Love Parade, Mayday und Tanzurlaub auf Ibiza münden sollte.

Und dann dieser DJ, Larry Levan. Das Plattenkarussell, das er sich in seiner DJ-Kanzel bauen ließ, in welcher er zeitweise sogar wohnte. Die Boxen, die er entworfen hatte und die unter seinem Namen verkauft wurden. Sein exzessiver Lebensstil und sein früher Drogentod: Larry Levan war so etwas wie der Jimi Hendrix unter den DJs. Freilich: Fast niemand von denen, die heute in Plattenläden nach Larry-Levan-Remixen stöbern, haben je selbst erlebt, wie er aufgelegt hat. Der tote Larry Levan aber erntet posthum den Respekt einer Geschichtsschreibung, die in Musikzeitschriften und in einer wachsenden Zahl von Büchern über das goldene Zeitalter von Disco ihren Lesern unaufhörlich Respekt vor den alten Meistern einhämmern.

Bisher waren die Mixkünste von Larry Levan nur auf der CD „Live from the Paradise Garage“ zu hören, die einen Gig von 1979 dokumentiert. Bisher. Doch in der letzten Zeit ist das Internet zu einem immer wichtigeren Faktor in der Historisierung von Tanzmusik geworden. Auf von Fans betriebenen Websites, aber vor allem bei den von der Musikindustrie dämonisierten MP3-Tauschbörsen finden sich unzählige DJ-Mixe von den 70er-Jahren bis zur Gegenwart. Auf einer Websites wie deephousepage.com sind zum Bespiel hunderte von DJ-Gigs aus den Pionierjahren von House zu finden.

Ron Hardy in der Musicbox anno 1985. Larry Levan 1987 in der Paradise Garage. Farley Jackmaster Funk 1988 live on 102.7 FM WBMX. Der House-Connaisseur fährt sich bei der Lektüre dieser Liste mit der Zunge über die Lippen wie ein Feinschmecker beim Lesen der Speisekarte in einem Fünf-Sterne-Restaurant. Allen anderen sei gesagt, dass die Music Box der Club war, in dem der House-Sound von Chicago geboren wurde, und dass Ron Hardy ihr DJ-Prophet gewesen ist. Und dass die Radiosendung von Farley Jackmaster Funk eine wichtige Station auf dem Weg von House aus dem Party-Untergrund in die öffentliche Wahrnehmung gewesen ist.

In den 80er-Jahren waren diese DJ-Sets allenfalls auf Privatmitschnitten von Radiosendungen oder auf halblegalen Mixtapes zu bekommen, die inzwischen wahrscheinlich zum größten Teil in irgendwelchen Kellern vor sich hin demagnetisieren. In der Gegenwart, fern von Chigaco, schließen Raver in Clubs wie dem Tresor zu vorgerückter Stunde ihren Minidisc-Player ans Mischpult an und schneiden so ihre eigenen Bootlegs mit. Und im Internet kann man (zum Beispiel auf der Website von klubradio.de) Live-Auftritte von DJs in Berliner Clubs in Echtzeit mithören – und mit etwas Geschick auch auf dem eigenen Computer speichern.

Doch in der Regel hat man kaum Gelegenheit, epochale DJ-Auftritte von einst zu hören. Solche Live-Aufnahmen aber unterscheiden sich komplett von den Dutzenden von DJ-Mix-CDs, die heute in jedem Plattenladen verkauft werden. Mal abgesehen davon, dass bei den historischen DJ-Sets ein mittleres Anwaltsbüro wohl ein halbes Jahr damit beschäftigt sein würde, die Rechte für jedes einzelne Stück zu klären: Die Live-Mixe wurden für ein paar hundert oder maximal tausend Leute in einer spezifischen Situation zusammengestellt und sind nicht Teil einer Marketingstrategie.

Dank des Internets aber sind diese Mixe nun Allgemeingut geworden. Weder Zeit noch Raum noch der Türsteher halten uns fern von ihnen. Und ja, da findet sich ja tatsächlich auf der Website von deephousepage.com: ein Mitschnitt von Larry Levans Auftritt in der letzten Nacht der Paradise Garage. Mit etwas feuchter Hand klickt man auf das Soundfile, das sofort beginnt, sich auf die Festplatte herunterzuladen. Die Intensität einer Nacht als Datei. Vierzig Minuten lang, wenn die Verbindung hält.

Was man auf diesen Bootlegs hört, ist in manchen Fällen kaum von herkömmlichem Lärm zu unterscheiden. Viele der Mitschnitte sind wahrscheinlich in bester Partylaune mit einem Diktiergerät direkt von einem Lautsprecherturm abgenommen worden. Man hört die Crowd auf der Tanzfläche toben, Gesprächsfetzen, Gläser klirren, und hoffentlich hält der labernde Typ, der so nahe am Microphone steht, irgendwann noch mal die Klappe. Andere Aufnahmen leiern so erbärmlich, dass es schon eines sehr ausgeprägten Fantums bedarf, um sich durch den Noise hin durch zum eigentlich Ereignis durchzuhören. Oder ist der Noise das Ereignis?

Wenigstens was den euphorischen Jubel der Menge betrifft, so lernen wir aus diesen Dateien, gab sich das Publikum in der Paradise Garage wohl alle Mühe, mit der Musik aus den Lautsprechern zu konkurrieren, und am Ende vieler Stücke wird wie bei einem Live-Konzert applaudiert und gejubelt. Im Vergleich dazu herrscht in jedem deutschen Club Grabesstille auf dem Floor. Auf dem Mitschnitt der letzten Nacht aus der Paradise Garage hört man dagegen sogar, dass Larry Levan an einigen Stellen den Sound killt, damit die Leute den Refrain lauter mitgrölen können. Diese Art von Populismus würde sich heute kein DJ jenseits von Kuhstall-Dissen in der Provinz mehr trauen.

Demystifizieren solche posthum – also am Ende der Nacht – veröffentlichten Mixe also DJ-Legenden? In den einschlägigen Artikel über die bacchantischen Auftritte wichtiger DJs ist meistens von nass geschwitzten Leibern, ekstatischen Gesichtsausdrücken, entrückten Szenen auf der Tanzfläche zu lesen, wenn es darum geht, die Qualität ihrer Auftritte zu beschreiben. In wirklich geglückten Momenten erklärt sich die Tanzfläche ununterbrochen selbst, was sie gerade hört und warum es ihr gefällt. Diese Momente gelingender Intersubjektivität, die das Feinste und das Utopischste sind, was ein guter Club zu bieten hat, können auf schlichten Audio-Aufnahmen – egal von welcher Qualität – natürlich nicht reproduziert werden.

Wer sich trotzdem darauf einlässt, kann auch aus den Mitschnitten im Internet aber dennoch einiges heraushören: und wenn es nur die Tatsache ist, dass Larry Levan eigentlich nicht besonders gut mixen konnte. Oder aber, dass es ihm aufgrund seiner Geschichte, seiner Hartnäckigkeit und seiner Persönlichkeit trotzdem gelungen ist, einen Kontext zu schaffen, in dem sich eine Schar enthusiastischer Musikfanantiker und -kenner ziemlich bedingungslos darauf eingelassen hat, was er auflegte.

Die komplizierten Interaktionen zwischen Plattenaufleger und Tanzfläche kann man aus vielen der Live-Mitschnitte durchaus heraushören. Warum DJs in bestimmten Situationen als Gott betrachtet werden, kann man hier, wenn schon nicht glauben, so zumindest verstehen lernen, wenn man es denn will.

Wer sich nicht darauf einlässt, lauscht diesen Aufnahmen wie ein schlecht gelaunter Zufallsgast, der durch irgendwelche Umstände in einem Club gelandet ist und sich nun über die scheppernden Boxen ärgert. Aber wer mit offenen Ohren zuhört, kann aus diesen Soundfiles nicht nur eine Menge DJ-Geschichte, sondern auch den Zauber einer Nacht heraushören, der in diesen Dateien so verdichtet ist wie der Geruch von Chanel Nr. 5 in einem einzigen Tropfen hoch konzentrierten Parfums.

Historische House-Mixe gibt es unter anderem bei deephousepage.com. DJ-Mixe aller Art können bei den einschlägigen MP3-Tauschbörsen heruntergeladen werden.