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Archiv-Artikel

Wo die Pferde Abfall fressen

Zwölf Jahre UNO-Sanktionen haben die einst wohlhabende irakische Gesellschaft in die Armut gestürzt. Fast eine Million Kinder unter fünf sind chronisch unterernährt. In Saddam City stehen Wohnungen unter Wasser, weil wichtige Ersatzteile fehlen

aus Bagdad KARIM EL-GAWHARY

Offizielle Berichte sind trocken. Das liegt wohl am Genre und gilt auch für alle jene Werke der UNO und internationaler Hilfsorganisationen, die die humanitäre Krise des Irak in Statistiken und objektiven Bestand nehmenden Sätzen zusammenfassen. Da werden Krankheiten pro tausend Kinder gezählt, die sinkende Einschulungsrate beklagt oder die Kubikmeter auslaufenden Abwassers gezählt.

Ein paar lapidare Zeilen in einem Bericht, die für die neunköpfige Familie Udaieb in Saddam City im Norden der irakischen Hauptstadt zum Lebensinhalt geworden sind. Deren ganz persönliches menschliches Desaster kriecht feucht die schimmeligen Wände hoch und stinkt zum Himmel. Die Familie watet in ihrer Parterrewohnung in Plastikschlappen buchstäblich durch braunes, stinkendes Abwasser. Der kleinste, der eineinhalb Jahre alte Mustafa, leidet an chronischem Durchfall. Doch damit nicht genug: Seine Mutter zieht in kurz aus der Pfütze heraus und deutet auf seine geschwollenen Füße.

Es begann vor vier Jahren, erzählt die Familie, als das Hauptabwasserrohr der Siedlung verstopft war. Mangels Ersatzteilen, deren Einfuhr durch die UN-Sanktionen schwierig war, konnte die örtliche Pumpstation das Aufkommen nicht mehr schaffen. Jetzt steigt das Abwasser überall an die Oberfläche. In den ehemaligen Gärten fault der Rasen. Auf den Straßen haben sich große Seen gebildet.

Die Nachbarn versuchen zu helfen. Die achtköpfige Familie, die in einer Zweizimmerwohnung im ersten Stockhaust, hat freundlicherweise ein paar Möbel und die staatliche monatliche Essensration der Udaiebs bei sich zwischengelagert.

Auch draußen auf einer der Hauptstraßen von Saddam City, einem Viertel, in dem schätzungsweise über eine Million Menschen leben, zeigt sich ein Bild absoluter Armut. Hier fressen sogar Pferde Müll, während Frauen in ihren schwarzen Abaya-Umhängen nach allerlei Brauchbarem suchen.

Zwei Kriege und zwölf Jahre UN-Sanktionen haben die einst wohlhabende irakische Gesellschaft in ein Drittweltland verwandelt, erklärten die Vertreter mehrerer in Bagdad arbeitender internationaler Hilfsorganisationen unlängst auf einer Pressekonferenz. Ähnliches lässt sich auch immer wieder von UN-Vertretern vor Ort – „inoffiziell“, versteht sich – vernehmen. Während die UN-Waffeninspektoren das Land nach Massenvernichtungswaffen absuchen, sammeln die Mitarbeiter des humanitären UN-Programmes Material über Unterernährung, Durchfallkrankheiten und steigende Analphabetenraten.

Zwar gibt es sie, die kleine Schicht der Sanktionsgewinner, die sich in den Boutiquen Bagdads nach der neuesten Mode kleiden und mit ihren Limousinen vor schicken Restaurants vorfahren. Doch die UN-Entwicklungsorganisation UNDP schätzt, dass fast 50 Prozent der irakischen Haushalte, wie die Udaiebs, nicht genug Geld verdienen, um ihre grundlegenden Bedürfnisse zu decken. Sie würden ohne die staatlichen Essensrationen nicht überleben. Die Udaiebs leben von einer Kriegsrente und gelegentlicher Tagelöhnerarbeit.

Die Zahlen der UNDP und des UN-Kinderhilfswerk Unicef sprechen ihre eigene Sprache. Vor und nach Beginn der UN-Sanktionen, das ist bei all den Statistiken der Scheidepunkt. Es ist gerade einmal ein Jahrzehnt her, da hatten beispielsweise fast 100 Prozent der städtischen und 78 Prozent der ländlichen Bevölkerung Zugang zu einem gut funktionierenden Gesundheitssystem. Damals umfasste das Budget des irakischen Gesundheitsministeriums 500 Millionen Dollar. Heute muss das gleiche Ministerium mit nur noch 5 bis 10 Prozent dieser Summe auskommen.

Auch die Ernährung bleibt trotz einer leichten Verbesserung durch das 1996 begonnene „Öl für Nahrungsmittel“-Programm, mit dem Irak erlaubt wurde, sein Öl zu verkaufen und dafür von der UN kontrolliert Waren zu importieren, ein großes Problem. Die letzten beiden Ernten brachten zwar gute Ergebnisse, so dass die Zahlen der Unicef zur Unterernährung leicht rückläufig sind. Der Chef der Unicef in Bagdad, Carel de Rooy, betonte aber bei der Veröffentlichung der neusten Zahlen Ende November, dass immer noch fast eine Million irakische Kinder unter fünf Jahren chronisch unterernährt seien – ungefähr ein Viertel aller Kinder in diesem Alten.

UN-Mitarbeiter in Bagdad warnen vor einer „humanitären Katastrophe“, sollte es zu einem lang andauernden Krieg kommen. Die meisten Menschen hätten keinerlei Reserven oder Ersparnisse, um sich darauf vorzubereiten. Ein Zusammenbruch des staatlichen Verteilungssystems von Nahrungsmitteln hätte verheerende Auswirkungen. Auf die Frage, wie sie sich in einem Kriegsfalle verhalten würden und ob es vielleicht dann nicht besser wäre, mit ihren Kindern die Stadt mit all ihren militärischen Einrichtungen und staatlichen Gebäuden zu verlassen, zuckt die Mutter der Udaiebs nur mit den Schultern. „Wenn wir es schon in Friedenszeiten nicht schaffen, aus diesem Loch hier wegzukommen“, sagt sie, „wo sollen wir erst dann hin, wenn ein Krieg ausbricht?“