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Archiv-Artikel

„Ich weiß, dass niemand mir helfen wird“

BELÄSTIGUNG Syrische Flüchtlinge haben schlechte Erfahrungen mit der Polizei. Das hat Folgen

VON SHERIEN ALHAYEK

Die syrische Bloggerin Sherien Alhayek, 26, wuchs in Homs auf. Sie hat dort Architektur und Kommunikationswissenschaften studiert. Seit einem Jahr lebt sie im türkischen Exil und studiert Video-Journalismus.

Kein Mann weiß, wie es sich anfühlt, von einem anderen Mann auf der Straße belästigt zu werden. Weil der denkt, er habe ein Recht dazu, wegen deiner Kleidung, deiner Erscheinung, deiner Art oder was auch immer. Diese Mischung aus Schuld, viel Wut und Ohnmacht, ist toxisch.

Heute begleitete ich eine Freundin beim Einkaufen, als ein türkischer Mann mich anmachte. Ich trage Jeans, ein ärmelloses T-Shirt und habe eine Wasserflasche in der Hand. Als er hört, dass ich mit meiner Freundin Arabisch spreche, kommt er dicht an mich heran und fragt mich auf Türkisch, ob ich Türke sei. Ich habe kein Interesse an einem Gespräch mit ihm, also antworte ich auf Englisch: „I don’t want to talk to you!“ Er sagt, auch auf Englisch: „I don’t understand.“ Ich wiederhole mich zweimal und setze dann hinzu: „Shut up! Maybe this you will understand!“

Ob ich Syrer sei, will er wissen, und ich schweige. Er schiebt einen Einkaufswagen voller Kleidungsstücke vor sich her und stößt mich damit leicht am Arm an. Ich ziehe meinen Arm weg, doch er greift nach ihm und redet auf Türkisch auf mich ein. Ich beginne mich zu ekeln. Seine Finger fühlen sich schmutzig an, schlammig, obszön. Seine Finger um meinen Arm verletzen meine Seele.

Nachdem ich ihn geohrfeigt habe, verwandelt er sich in ein Tier. Seine Finger quetschen mir die Lippen zusammen, und er zieht mich zu sich heran, dann legt er mir seine Hand auf die Schulter und rammt mir seine Nägel in die Haut. Ich bin total überrascht. Jetzt will er mich schlagen. Die Leute in dem syrischen Restaurant neben uns sehen zu. Niemand unternimmt etwas. Wahrscheinlich sind es alle Syrer, und die haben Angst, in einen Kampf mit einem Türken verwickelt zu werden. Als Flüchtlinge fühlen sie sich schwach. Ich trete ihm in den Magen. Er weicht ein wenig zurück und zieht meinen Kopf dann an meinen langen Haaren herunter und beginnt ihn gegen das Fenster eines geparkten Autos zu schlagen. Ich fühle mich wie vergewaltigt. Denn nur jemand, dem ich in Liebe verbunden bin, darf seine Finger in meine Haare graben. Deshalb verletzt mich seine Hand in meinen Haaren mehr als seine Schläge auf meinen Kopf. Wie er nach meinen Lippen, Haaren oder meiner Jacke greift – alles ist obszön.

Es gelingt mir, mich mithilfe ein paar vor langer Zeit gelernter Judo-Griffe zu befreien. Doch wieder reißt er mich an den Haaren und schlägt meinen Kopf auf einen kleinen Tisch, der zum Restaurant gehört. Ich schütte ihm mein Wasser ins Gesicht und schlage zurück.

Mittlerweile sind Freunde von ihm da und wollen ihn wegziehen. Doch ich halte seine Hand fest. Ich verlange, dass jemand die Polizei holt. Niemand rührt sich. Syrer haben in Syrien schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht, und in einem fremden Land wollen sie nicht in die Nähe eines Polizisten kommen. Sie haben schon genug Probleme hier.

Irgendwie habe ich es trotzdem geschafft, dass er für eine halbe Stunde verhaftet wird. Er hat jetzt große Angst und weint vor den Polizisten. Er entschuldigte sich bei mir. Die beiden Polizisten weisen mich an, diese Entschuldigung zu akzeptieren, immerhin hätte ich weder einen Übersetzer, ein ärztliches Attest noch einen Zeugen bei der Hand. Und ich weiß, dass niemand aus dem Restaurant mir helfen wird. Also akzeptiere ich, und er darf gehen.

Zu Hause gehe ich duschen. Ich will seine Fingerabdrücke abwaschen. Im Spiegel sehe ich die Kratzer auf meiner Schulter, und zum ersten Mal könnte ich weinen. Sie sehen aus, als kämen sie von einem wilden Tier und nicht von einem bösartigen Menschen, der denkt, er kann Frauen auf der Straße belästigen, weil er Türke ist und ich Syrerin bin, weil er stark ist und ich schwach bin, oder einfach nur, weil er ein Mann ist und ich eine Frau bin.

Aus dem Englischen von Ines Kappert