piwik no script img

Archiv-Artikel

DEUTSCHE VERTRIEBENEN-NACHFAHREN FORDERN ENTSCHULDIGUNG VON DEN POLEN. ABER KÖNNEN SIE DAS, OHNE DIE KRÄNKUNG DER POLEN DURCH NAZI-DEUTSCHLAND ZU BERÜCKSICHTIGEN? Antiquierte Rituale

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Die Schlesier sind Menschen, die aus einer Region stammen, die sich Schlesien nennt. Sie können deutscher, polnischer oder tschechischer Nationalität sein. Die Grenzen Schlesiens haben sich immer mal wieder etwas verschoben, aber der größte Teil Schlesiens befindet sich im heutigen Polen, beidseitig der Oder. Ein Teil der deutschen Schlesier floh 1945 vor der Roten Armee, ein anderer Teil wurde im Juni 1945 von Polen enteignet und vertrieben.

Die deutschen Schlesier und ihre Nachkommen leiden zum Teil immer noch unter dieser Vertreibung. Ihre Nachkommen sind zwar in Deutschland geboren, aber auch sie reisen zum deutschlandweiten Treffen der Schlesien-Vertriebenen, das am letzten Wochenende in Hannover stattfand. Das Treffen wird nach wie vor vom Land Niedersachsen bezuschusst, auch wenn es hierüber vereinzelt zu Kritik kommt.

So war manch einer irritiert, als von Seiten der schlesischen Vertriebenen gefordert wurde, die Polen sollten sich bei den Deutschen entschuldigen. Auf ihrem Treffen also erinnern sich die Schlesier an früher, sie stecken in Trachten, selbst die ganz kleinen Kinder stecken in Trachten, sie tanzen alte Tänze und pflegen Traditionen. Das befremdet mich.

Für mich ist allerdings auch das Bayerische befremdlich. Als ich vor etlichen Jahren das erste Mal in einem bayerischen Dorf Urlaub machte, traf ich auf Jugendliche, die in Tracht auf ein Fest gingen. Als Norddeutsche, als Ostdeutsche war ich mehr als irritiert. Ich pflege kaum Traditionen als meine ganz individuellen. Ich lehne jede Art von Organisation in einer Gruppe ab. Ich kann mich nur einzelnen Veranstaltungen / Bewegungen hingeben, die ein konkretes Ziel verfolgen, das auch meines ist. Ich teile nicht die Ideale meiner Eltern oder meiner Verwandten, nur weil sie meine Eltern und Verwandten sind. Ich hege keine warmen Gefühle für die Menschen, mit denen ich zufällig aufgewachsen bin, ich meide Klassentreffen. Denn ich weiß, dass ich keine Gemeinsamkeiten mit diesen Menschen habe, als die, dass wir in der selben Landschaft aufwuchsen, zur selben Zeit, im selben politischen System.

Ich könnte diese Kindheit romantisieren, indem ich mich an das Krebsefischen nach der Disco erinnere, aber ich weiß, dass das nicht reicht, um mit diesen Menschen befreundet zu sein. Meine Freunde sind hier, wo ich jetzt lebe, ich habe sie mir selbst ausgesucht, und meine Heimat ist, wo meine Freunde sind.

Warum halten also Menschen an Dingen fest, die sie gar nicht mehr betreffen, sondern nur ihre Eltern oder Großeltern? Warum pflegen sie Traditionen, die hier und in der heutigen Zeit so antiquiert und falsch wirken? Ich nehme an, dass die Enteignung und die Vertreibung als Verletzung empfunden wird, die sich tief in die Familiengeschichte eingegraben hat. Ich nehme an, dass auch die nachfolgenden Generationen noch gekränkt sind, ob der Ungerechtigkeit, die ihren Vorfahren angetan wurde. Und ich nehme an, dass sich einige um ein mehr oder weniger großes Erbe gebracht sehen. Alles verständlich.

In Schlesien liegt ein Ort, der Ausschwitz heißt. Kann ein deutscher schlesischer Vertriebener seine Kränkung ohne Berücksichtigung der Kränkung der Polen sehen? Kann er verstehen, dass die Polen die Vertreibung der Deutschen als gerechte Strafe für die Verbrechen an den Polen empfanden? Kann er verstehen, dass die Polen keine Deutschen mehr bei sich haben wollten, weil die Deutschen ihr Land überfallen und sechs Millionen Polen umgebracht hatten?

Ich will nicht das Unrecht des einen gegen das Unrecht des anderen aufrechnen, ich will glauben, dass die Vertreibung auch Familien betraf, die es nicht mit den Nazis gehalten haben, die also „unschuldig“ waren, aber ist das möglich? Kann das einer, dem Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft so wichtig ist, in dem Moment ablegen, wo ihm das als Schuld angerechnet wird? Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.