Wir sehen uns wieder

AUFBRUCH Eine Familie flieht 1945 aus dem Sudetenland. Zwei Brüder landen in der DDR, einer in der BRD. Einer empfindet sein Schicksal als gerechte Strafe. Der andere spürt bis heute den Verlust. Der dritte stirbt

■ Was passiert? Im Schlüterhof des Deutschen Museums in Berlin wird am Samstag der erste Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung gefeiert. Der Bundespräsident wird eine Rede halten, auch eine Sudetendeutsche und ein Flüchtling aus Nordafrika sollen sprechen. Zum Schluss: das Lied der Deutschen.

■ Warum dieser Tag? Das Datum hat die Bundesregierung bewusst gewählt: Der 20. Juni ist Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen. Ein Tag, der allen Flüchtlingen weltweit gewidmet ist und in dem man auch die Deutschen von vor siebzig Jahren unterbringen kann – das scheint vertretbar und müffelt nicht nach Revanche.

VON ANJA MAIER

Der Vater packt den Griff des überladenen Handwagens, die Mutter nimmt ihren Jüngsten an die Hand, den drei Jahre alten Herwig. Wilfried Maier und sein älterer Bruder Tonl treten vor die Tür ihres Elternhauses. Sie müssen alle los. Jetzt. Zum Zug.

August 1945. Die Familie des Kaufmanns Anton Maier verlässt ihr Heimatdorf. Die Deutschen haben den Krieg verloren, sie müssen Land abgeben. Die Maiers sind Sudetendeutsche aus Lewin, einem Dorf, das nach der Kapitulation des Deutschen Reichs wieder zur Tschechoslowakei gehört. Sie müssen fort aus ihrem Haus, ihrem Dorf, ihrer Heimat seit Generationen. So haben es die Alliierten beschlossen.

Onkel Heini ist mit dem Leiterwagen gekommen. Das Pferd steht schnaubend auf der Schotterstraße, es ruckt unruhig im Geschirr. Die Jungen reichen ihm auf flachen Händen Augustäpfel. Wärme in der Hand. Die Erwachsenen wuchten den Handwagen auf die Ladefläche. Fünfzig Kilo Gepäck dürfen die fünf mitnehmen aus ihrem Haus am Hang. Am Horizont ziehen Wolken auf, es riecht nach Regen.

Der Vater schließt das Haus ab, rüttelt noch mal an der Klinke. Vor dem Schaufenster des Dorfladens hat er extra dicke Vorhängeschlösser angebracht. Alles soll so sein, wie sie es verlassen haben, wenn sie wieder zurückkommen.

Dies ist die Geschichte einer Flucht. Eine Geschichte, wie es sie millionenfach am Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben hat. Es ist auch die Geschichte einer Trennung. In Ost und West. In richtig und falsch. Es ist die Geschichte dreier Brüder, an die sich vor allem einer neuerdings immer stärker erinnert.

Onkel Heini wedelt mit der Peitsche, das Pferd ruckt an. Heini – der mit einer Slowakin verheiratet ist und Lewin deshalb nicht verlassen muss – begleitet seine Schwester Resi, ihren Mann und die drei Söhne die zwei Kilometer zur Bahnstation nach Loschowitz. Von dort geht es weiter Richtung Auscha. Und von dort … Wer weiß?

Sie sollen nach Deutschland.

Der Tschokl, der kleine Zug, der sonst Deutsche und Tschechen zwischen Groß-Briesen an der Elbe und der Stadt Auscha zur Schule, zum Einkaufen oder in die Fabrik gefahren hat – heute bringt er die Maiers fort.

Der Abschied. Feste, kurze Umarmungen.

Für die Deutschen ist der Kohlenwagen leer geschaufelt worden. Eine Frau kontrolliert das Gepäck. Der Vater gibt ihr Geld, sie dürfen ohne Nachwiegen hinaufklettern, dort kauern sie sich in den Kohlenstaub.

Wir kommen wieder. Pass gut auf das Haus auf! Mahnt Resi.

Passt ihr gut auf die Kinder auf! Ruft Heini.

Dann ruckt der Tschokl an. Es beginnt jetzt zu regnen, immer stärker. Sie winken, winken. Es ist das letzte Bild, das Bruder und Schwester voneinander behalten. Sie werden sich nicht mehr wiedersehen.

Die Flucht beginnt.

Anton und Theresia Maier, der Lewiner Kaufmann und seine Ehefrau, sind im August 1945 fünfzig und vierzig Jahre alt, ihre Söhne Anton, Wilfried und Herwig sechzehn, dreizehn und drei. Die fünf müssen noch einmal von vorn beginnen.

Anton und Resi werden in Thüringen ein neues Zuhause finden. Anton arbeitet dort beim Finanzamt, Resi kümmert sich um den Garten und das neue Haus. An die Wand in der Küche nageln sie ein Schwarzweißfoto von Lewin, daneben hängen sie einen Rosenkranz.

Tonl, der Älteste, wird Lehrer. 1953 geht er in den Westen.

Herwig, der Jüngste, wächst in der DDR auf und wird Ökonom. Nach der Wiedervereinigung nimmt er sich das Leben.

Wilfried, der Mittlere, baut die DDR mit auf und wird im Finanzministerium arbeiten.

Wilfried Maier ist mein Vater.

Wir sitzen in seinem Berliner Arbeitszimmer. An der Wand hängen Fotos: seine Mutter, seine Frau, wir drei Kinder. Auch das Bild von Lewin: der Berg, die Kirchturmspitze, das sanfte Tal. Die alte Heimat. Die Nacht zuvor war mies, mein Vater hat schlecht geschlafen. Über Lewin sprechen, über das Leben danach, das ist ungewohnt für ihn. Was er auf keinen Fall möchte, ist eine Opfergeschichte.

Der Tag, an dem dieser Text erscheint, ist Menschen wie meinem Vater gewidmet. Ihm, seinen Brüdern, ihren Eltern, den Millionen Flüchtlingen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland kamen. Offiziell ist der 20. Juni von 2015 an „Nationaler Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“.

„Flucht und Vertreibung“, sagt die Bundesregierung. Es klingt nach Katastrophe, Gewalt, Verlust. „Umsiedlung“, sagt mein Vater. Das klingt nach Plan, Vertrag und Ordnung. Diese Unterscheidung ist ihm wichtig. Umgesiedelt bedeutet auch: Wir kommen nicht zurück.

Seine ist die Erzählung der DDR: Hitler hat die Deutschen verführt, und die brachten unvorstellbares Leid über die Völker im Osten. Die Sowjetunion hat Hitler besiegt. Die Deutschen hatten den Schaden wieder gutzumachen. Was die Umgesiedelten erlitten haben, zählt nicht. In der Schule lernten wir, dass die große Stadt an der Ostsee nicht Danzig heißt, sondern Gdánsk. Wir sprachen das Wort scheppernd, als wäre ein Eimer Kohlen umgefallen, Gedanzk. Wir sagten nicht Breslau, wir sagten Wroclaw. Wrotzlaff.

Oder-Neiße-Friedensgrenze, so nannte die DDR die Linie, an der Deutschland aufhört und Polen beginnt.

In Westdeutschland haben die Vertriebenenverbände viele Mitglieder, potenzielle Wähler, politischen Einfluss. Es gibt eine Öffentlichkeit, in der sie die Sicht auf das Leid der deutschen Flüchtlinge diskutieren können. Zuweilen scheint ihr Schmerz mehr zu gelten als das, was Polen und Tschechen unter den Nationalsozialisten zu erdulden hatten. Die langjährige Vorsitzende des Bundesverbands der Vertriebenen, Erika Steinbach redet oft von Wiedergutmachung und ungeklärten Besitzfragen. In einer Umfrage der Tageszeitung Rzeczpospolita küren deren Leser Steinbach 2009 zu der Frau, vor der sie sich am meisten fürchten. Mehr Angst haben sie nur vor Wladimir Putin. Bis zur Wiedervereinigung lässt die Bundesrepublik offen, ob sie nicht doch Anspruch auf die verlorenen Gebiete erheben würde. Erst 1990 hört das auf.

Für meinen Vater Jahrzehnte zu spät. „Was uns widerfahren ist, hat seinen Ausgangspunkt im Faschismus“, sagt er. Und dass er nicht möchte, dass das vergessen wird. Er ist da strikt. Kühl. Von Schmerz spricht er nicht gern.

Waren deine Eltern Opfer?

„Ja.“

Waren deine Brüder Opfer?

„Ja.“

Und warum warst du dann kein Opfer?

„Als Kinder waren wir Opfer, ja. Aber nicht in meinem ganzen Leben.“

Für ihn und seine Brüder bedeutet das Kriegsende einen Aufbruch, wenn auch einen unfreiwilligen. Für ihre Eltern ist es ein Desaster. Aus dem angesehenen Kaufmann, der jede Woche mit dem Pfarrer, dem Lehrer und dem Apotheker im Gasthaus Karten gespielt hat, wird ein mittelloser Flüchtling. Später, in Thüringen, ist er wieder wer. Doch so lange ich denken kann, erzählte mein Opa uns Kindern Geschichten aus Lewin. Er, der gewitzte Geschäftsmann, er, der schmucke Kerl. Er, der Held.

Anton Maiers Söhne machen etwas aus dem Neuanfang. Tonl, der Älteste, ging schon in der Heimat aufs Gymnasium. Nach dem Krieg macht er das Abitur und einen Neulehrerkurs in Sachsen-Anhalt. Er ist ein begeisterter Lehrer. Auch im Westen. 1953 flüchtet er über Berlin, er hat sich politisch unbotmäßig geäußert, wie genau, das erzählt heute niemand mehr. Er studiert in Dortmund Englisch und Geschichte, wird Lehrer in Hessen, Beamter in der Bundesrepublik Deutschland.

Erst Mitte der Siebzigerjahre besucht er Mutter und Vater in der DDR. Seine Brüder trifft er 1990 wieder. Nicht einmal bei der Beerdigung des Vaters 1984 waren sie einander begegnet; auf dem Telegramm mit der Todesbotschaft, das von Ostberlin nach Hessen ging, stand der Vermerk: „Nicht zur Einreise!“ Damit seine Brüder in der DDR werden können, was sie wollen, dürfen sie keinen „Westkontakt“ haben. Die Zurückbleibenden sehen einen Sohn und Bruder, der weggeht, einen der rübermacht in ein besseres Leben. Tonl sieht zwei Brüder, die sich nicht mehr bei ihm melden, um ihren Aufstieg nicht zu gefährden.

Tonl Maier hat geheiratet, wurde Vater zweier Töchter, Großvater. Für ihn, den Westdeutschen, war der Auszug aus Lewin eine Vertreibung. Er spürt das Verlorene noch immer, sieht es so klar, dass er es detailliert beschreiben kann, sogar zeichnen.

■ Die Legende vom Tabu: Der Gedenktag am 20. Juni sei vor allem ein Anliegen des Bundesverbands der Vertriebenen gewesen, sagt der Historiker Stephan Scholz: „Ein Gedenktag soll die erinnerungspolitischen Ziele des Verbands über sein Bestehen hinaus sichern.“ Denn die Mitglieder des Verbands sterben aus. Der habe die Legende erschaffen, es wäre ein Tabu, über Flucht und Vertreibung der Deutschen zu sprechen. „Dem ist definitiv nicht so“, sagt Scholz, Autor des Buchs „Vertriebenendenkmäler, Topographie einer Erinnerungslandschaft“. Im Nachkriegsdeutschland sei das Thema diskutiert worden, selbst in der stark reglementierten DDR habe es Literatur dazu gegeben.

■ Das Gute daran: „In der DDR hatten sicherlich viele Menschen das Gefühl, sich zu ihrer eigenen Geschichte nicht frei äußern zu können und sie verstecken zu müssen“, sagt Stephan Scholz. Und auch in der BRD sei die öffentliche Aufarbeitung für Westdeutsche erschwert worden – kurioserweise durch die Vertriebenenverbände selbst. „Sobald man sich nämlich mit diesem Thema beschäftigte, befand man sich in der Nähe des geschichtspolitischen und revisionistischen Diskurses der Verbände und konnte mit ihnen vorschnell identifiziert werden“, sagt Scholz. Das ganze Interview mit dem Oldenburger Historiker finden Sie auf taz.de unter: taz.de/interviewscholz

Im Dezember 2005, ein paar Tage vor Weihnachten schickt Tonl meinem Vater einen Brief. Auf sechs Seiten hat er das Elternhaus aufgemalt. Hier der Verkaufsraum, rechts davon das Lager für Lebensmittel, dahinter das Büro. Im ersten Stock hinter der Wohnstube „unser Zimmer mit den ‚goldenen‘ (Messing) Betten“. Oben auf dem Speicher, schreibt er, hatte er „Bücher versteckt, die aus dem Nachlass eines Lewiners stammten. Dieser war ins KZ gekommen. Eines der Bücher war von Lassalle, es hätte unsere Eltern ebenfalls ins KZ bringen können. Es ist noch mal gutgegangen, wie so vieles andere auch.“

Bis heute abonniert er den Leitmeritzer Heimatboten, das Mitteilungsblatt aus der alten Heimat, in dem Geschichten aus den Zeiten vor der Flucht erzählt werden. Die Website des Boten ist verlinkt zur Sudetendeutschen Landsmannschaft.

Das hat mir nicht Tonl erzählt, sondern seine Tochter Susanne. Nachdem wir uns für diesen Text zum Interview verabredet hatten, rief Tonl bei meinen Eltern in Berlin an. Er wolle nicht mit mir sprechen. „Ich lebe jetzt in einer Selbstbestimmtheit, die behalte ich auf alle Fälle bei“, sprach er auf den Anrufbeantworter.

Mein Vater, der mittlere der drei Brüder, wurde eins mit der DDR. Für ihn war sie das antifaschistische, das gerechte Deutschland. Nach der Ankunft in Thüringen lernt er auf Wunsch des Vaters Verkäufer. Mein Opa hoffte, der Junge könnte nach der Rückkehr ins Sudetenland das Geschäft weiterführen. Außerdem würde der schmächtige Junge im Lebensmittelhandel keinen Hunger leiden. Es macht ihm Spaß, das Wiegen, Einpacken, das Quasseln mit den Kunden. Er fängt bei der HO an, der Handelsorganisation, die in der DDR Warenhäuser, Hotels und Gaststätten führt.

Sie lassen ihn einen Kiosk auf einem kleinen Bahnhof in Thüringen schmeißen. Er verkauft den Arbeitern der Kupferhütte Bockwurst und Bier, und er liebt das. Er kündigt trotzdem und arbeitet als Eisenbieger am Stettiner Haff. „Das war schön“, sagt er, „mächtig gesoffen, 600 Mark Verdienst.“ Am Ende dieses Sommers, nach einem Jahr, endet sein Ausbruch. Er geht nach Thüringen zurück und wird dort Sachbearbeiter in einem Maschinenbaubetrieb. Heute sagt er, sein Vater habe das vermutlich so gewollt.

Die 1949 gegründete DDR braucht solche wie ihn: junge Leute mit Lust aufs Leben, gierig nach Wissen. Das Flüchtlingskind ohne Abitur darf studieren. Im Berlin der Fünfzigerjahre wird aus ihm an der neuen Hochschule für Ökonomie ein Marxist. Er tritt der SED bei, promoviert über Außenhandelspreise, steigt auf und verantwortet im Finanzministerium die Preispolitik. Das Ende der DDR macht ihn zum Frührentner. Aus seiner Partei, der SED, tritt er nie aus.

Politik spielte in unserem lauten Zuhause immer eine Rolle. Ständig wurde über alles diskutiert, selbst schlechte Schulnoten hatten etwas mit dem Weltfrieden zu tun. Welche Freiheiten nahm ich mir heraus, wenn in Vietnam die Kinder im amerikanischen Bombenhagel büffelten?

Zeigte die „Tagesschau“ Bilder vom Sudetendeutschen Tag – dunkle Trachten, seidige Fahnen, verdächtig korrekt rasierte Oberlippenbärtchenträger – war immer klar: Das sind die Revanchisten. Zu denen gehörten wir nicht.

Wir sitzen in seinem Zimmer. Vor dem Fenster die riesige Birke, deren wehende Zweige ich schon als Kind von meinem Bett aus gesehen habe. Am östlichen Stadtrand von Berlin bin ich aufgewachsen, Einfamilienhäuser, Gärten. Am Ende der Straße sahen wir die Zukunft unseres Landes. Ab 1977 wurden hier die ersten Blöcke für das Wohngebiet Marzahn hochgezogen. Mit diesen Elfgeschossern wollte die DDR-Führung bis 1990 die Wohnungsnot besiegen.

Mein Vater hat sich gründlich vorbereitet auf unser Gespräch. Auf seinem Schreibtisch liegen Blätter mit seinen Notizen. „Unsere Aussiedlung“ steht auf einem, „Lewin – Heimat“ auf einem anderen. „Unsere Familie“. „Deutschlands Verbrechen“.

Tut es ihm nicht doch gut, wenn sein Verlust mit einem Gedenktag gewürdigt wird?

„Nein. Ich brauche den jedenfalls nicht.“

Du warst damals dreizehn Jahre alt und hast alles verloren. Bist du kein Opfer?

„Wenn ich mein ganzes Leben zusammennehme, fühle ich mich nicht als Opfer. Ich halte derlei, dass man ganze Völkerschaften umsiedelt, für falsch. Ich rechtfertige das nicht. Aber das würde natürlich voraussetzen, dass man keine Kriege führt.“

Der Krieg. Er erklärt alles. Rechtfertigt alles. Meine Mutter, damals acht Jahre alt, hat die Bombenangriffe auf Dresden im Luftschutzkeller überlebt. Bis heute ist ihr über diese Tage im Februar 1945 kein Wort zu entlocken. In jener Nacht stand mein Vater siebzig Kilometer von Dresden entfernt auf dem Hügel hinter seinem Elternhaus und sah den Feuerschein der brennenden Stadt. Erst heute erzählt er mir davon. Wie sie alle ihre Jacken angezogen hatten und hinaus in den kalten dunklen Garten getreten waren. Ein ganz heller Schein aus nordwestlicher Richtung. Gigantisch sei das gewesen, sagt er, gigantisch.

Sechs Monate später fuhr seine Familie auf der Flucht die Elbe hinauf durch Dresden. Langsam tuckerte das Schiff, sie hatten Angst vor Trümmern und Minen im Fluss. Ein paar Kilometer weiter, in den Ruinen des Hechtviertels, seine spätere Frau, acht Jahre alt. Durch die Tür hören wir meine Mutter mit dem Teegeschirr klappern.

Mein Vater sagt, er habe den Verlust seiner Heimat akzeptiert, sein älterer Bruder gab Lewin nicht verloren. Tonl sprach davon, wenn er seine Eltern in der DDR besuchte, dort, wo die andere Erzählung galt. Da, wo er herkam, war noch immer von Rückübertragung die Rede. Lewin, der Laden, der Tschokl – das war doch das, was sie alle miteinander verband. Und in diesem Land hier sollte darüber nicht gesprochen werden? Einmal droht der achtzig Jahre alte Anton Maier seinem Sohn, er werde Meldung machen, welche Reden er hier führe. Dabei hat auch Opa die DDR nie gemocht. Tonl Maier ist danach nie wieder zu den Eltern gefahren, aus Angst, er würde verhaftet.

Durch die Wiedervereinigung wurde die Geschichtsschreibung des Westens auch die des Ostens. Mein Vater war plötzlich ein staatlich anerkanntes Opfer, der Umsiedler verwandelte sich in einen Vertriebenen. Behagt hat ihm das nicht, aber er schwieg. Wie schon beim letzten Umbruch gab es Wichtigeres als die eigenen Gefühle: einen Platz für sich in diesem neuen Land finden. Sein Herz war aus dem Takt geraten.

Wie hat sich deine Sicht auf die Flucht nach dem Mauerfall verändert?

„Ich habe zur Kenntnis genommen, dass die Westdeutschen mehr leiden. Leiden wollen. Und dass sie nicht zur Kenntnis nehmen, dass dieses Thema im Osten anders bewertet wird. Ansonsten bin ich seitdem auch schlauer geworden.“

Ein Platz im neuen Land – nicht jeder findet einen. Herwig, der jüngste der Brüder überlebt den Mauerfall nur sechzehn Monate. Er war der Liebling seiner Mutter, der zarte Blonde, sensibel, grüblerisch. In der DDR studiert er, findet eine der begehrten Stellen im Außenhandel, ist zuständig für den Verkauf von Landmaschinen. Er heiratet eine Musikerin, sie bekommen zwei Kinder. Dann Ende der Siebzigerjahre die Scheidung, seine Exfrau stellt einen Antrag auf Ausreise. Obwohl er nicht zustimmt, geht sie mit den Kindern nach Westberlin. Zehn Tage vor dem Mauerfall darf er seine Tochter besuchen, sie ist gerade Mutter geworden. Danach reist er brav zurück nach Ostberlin. Das habe er sich im Nachhinein nicht verziehen, sagt seine Tochter Christina. Er schreibt meinen Eltern in einem Brief, er habe sein SED-Parteibuch nun zurückgegeben. Er verliert seine Arbeit. Er kann seine Kinder regelmäßig sehen und bleibt doch ein Besucher. Im März 1991 reist er nach Tunesien und schwimmt „unerklärlich weit hinaus“. So steht es in dem Telegramm, das der Reiseveranstalter schickt.

Seine Tochter Christina arbeitet als Psychologin. Sie hält es für möglich, dass ihr Vater wegen seiner frühen Fluchterfahrung krank wurde. Kleinere Kinder, sagt sie, könnten ihre Ängste in Stress und Panik kaum artikulieren. Diese Sprachlosigkeit herrscht zwischen unseren Eltern und ihren Kindern bis heute. Der Krieg, die Flucht, die Angst – das wurde weggedrückt. In einer Zeit, in der es ums Überleben ging, war kein Raum für Schwäche.

Als ich mit Mitte zwanzig eine Psychotherapie machte, sagte mein Vater: „Sei mir nicht böse, aber wer so was braucht, ist schwach.“ Er würde das heute nicht mehr sagen.

Habt ihr Kriegskinder eine Gefühlsblockade?

„Ich würde ja sagen. Nicht so laut, aber ja. Das kommt von dieser deutschen Selbstdisziplin. Es ist immer noch schwer, über Gefühle zu sprechen. Aber ich glaube, ich bin besser geworden.“

Millionen Flüchtlinge und Vertriebene gelangten bis 1950 in die BRD und in die DDR

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Millionen der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg stammten aus ehemals deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Millionen Flüchtlinge und Vertriebene kamen aus der Tschechoslowakei, 300.000 aus Jugoslawien, 200.000 aus Ungarn, 130.000 aus Rumänien

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Millionen Deutsche hatten Flucht, Vertreibungen oder Deportation nicht überlebt

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Prozent der Einwohner in der sowjetischen Besatzungszone waren 1947 Flüchtlinge und Vertriebene, so viele wie in keiner anderen

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Sechsunddreißig Jahre nach der letzten Begegnung der drei Brüder gibt es ein Wiedersehen. Es ereignet sich 1990, an einem kühlen, sonnigen Frühlingstag. Im Haus meiner Eltern duftet es nach Kaffee. Erst seit Kurzem ist die Mauer offen, der sagenumwobene Onkel Tonl kommt nach Ostberlin, um seine Mama im Heim zu besuchen.

Resi kam nicht länger allein in ihrem Thüringer Haus mit Plumpsklo klar, meine Eltern haben sie nach Berlin geholt. Herwig wohnt nicht weit entfernt vom Altersheim. Man besucht die Oma – warum soll man nicht gemeinsam Kaffee trinken?

Mein Vater sagt, er habe keine Erinnerung an dieses Wiedersehen. Aber es gibt ein Foto. Tonls Tochter Evi hat die Idee und holt ihre Kamera. Sie kennt das alte Porträt von den dreien, kurz vor Tonls Flucht in den Westen musste das aufgenommen worden sein. In Schwarz-Weiß sitzen links Tonl, rechts Wilfried Maier, der kleine Herwig in der Mitte. Sie schießen das Bild in Farbe noch einmal. Sie lachen.

Mein Vater hat da schon sein Entlassungsschreiben aus dem Ministerium bekommen. In einem Jahr wird Herwig aufs Meer hinausschwimmen. Und Tonl? „Er hat wohl schon so ein Gefühl gehabt: Seht ihr, ich habe damals aufs richtige Pferd gesetzt“, sagt meine Cousine Susanne, „aber er hat das nicht raushängen lassen.“ Er habe sich, sagt sie, all die Jahre verleugnet und ignoriert gefühlt; dieser Bruch sei nicht mehr zu kitten gewesen.

Durch die Jahrzehnte war unsere Deutung seiner Person immer weiter ins Unscharfe geglitten. Für meinen Vater war Tonl ein Egoist, der seine Schüler sitzen gelassen hatte und in den Westen abgehauen war. Für meine Oma war er ihr großer Junge, den sie erst als Rentnerin hatte wiedersehen können. Für meinen Opa war er jener Sohn, der ihm aus dem Westen mal dies, mal jenes besorgen sollte.

Und nun stand da ein sechzig Jahre alter Lehrer, der das R mit seiner lauten Stimme so bemerkenswert rollte, wie ich es zuletzt bei meinem Opa gehört hatte.

Auf der Terrasse standen drei Brüder, die sich große Mühe gaben, einander nichts übel zu nehmen. Aber Erinnerung ist unwegsames Gelände. Es verändert sich mit jedem Schritt. Die Maier-Brüder waren in diesem Gelände eine weite Strecke gegangen.

Ein Jahr später standen nur noch zwei von ihnen am Urnengrab ihres Bruders. Weitere sechs Monate später wurde auch das Sterbedatum meiner Oma in schwarzen Stein gemeißelt. Als ihr Jüngster ertrunken war, machte sich ihr Geist auf und davon wie eine Federwolke, vor ihrem Tod fragte sie, ob ihnen die Tschechen das Haus weggenommen hätten.

Tonl Maier ist heute 86 Jahre alt, Wilfried Maier 83. Mein Vater schreibt ihm ab und zu einen Brief; Tonl telefoniert lieber.

Was meinst du, Papa, wie sind wir als Familie mit deiner Fluchtgeschichte umgegangen?

„Wir haben zu wenig darüber gesprochen. Wir haben das Thema gescheut. Weil es schwierig, sehr schwierig ist.“

Tonl unterrichtet noch immer. Flüchtlingskinder, wie er selbst eines war.

Mein Vater demonstriert. Für das Flüchtlingsheim in Marzahn.

Am Sonnabend hält in Berlin der Bundespräsident eine Rede. Ein Flüchtling aus Nordafrika wird sprechen. Und eine Sudetendeutsche.

Anja Maier, 49, taz-Parlamentskorrespondentin, besuchte Lewin 2005 mit ihrem Vater. Sie erinnert sich noch an den Geschmack der Knoblauchsuppe im Dorfgasthaus