: „Nicht nur dasitzen und Derrida lesen“
THEATER Das wichtigste Festival der Freien Szene „Impulse“ stand kurz vor dem Aus. Unter dem Motto „Gesellschaftsspiele“ hat es sich nun neu positioniert
VON REGINE MÜLLER
Ein Schlagzeugbecken ist ein erstklassiger Geräuschverstärker. Wenn man es mit getrockneten Erbsen bewirft, erzeugt es ein sirrendes „ksssss“. Sebastian Berweck wirft im Mülheimer Ringlokschuppen viele Erbsen auf sein Becken, der Rhythmus ist notiert. Die Komposition von Hannes Seidl wird in mehreren Etappen gespielt, später kommen Metallschrauben zum Einsatz, es gibt auch laute Kollisionen und eine Blechbläser-Truppe spielt schräge Akkorde. Seidls Musik ist Teil des Stücks „Die Aufführung“ des Performance-Duos Herbordt/Mohren, das am dritten Festival-Tag der „Impulse“ nachmittags den Reigen der Veranstaltungen im Festival-Zentrum eröffnet.
Auf dem Boden der Bühne erinnern Klebemarkierungen an Lars von Triers „Dogville“-Theater-Versuchsanordnung, mobile Sperrholzwände und Rollos begrenzen immer neue Räume, das Publikum kann sich frei bewegen, während sich das streng durchgetaktete Geschehen parallel abspielt. Digitaluhren sind allgegenwärtig, aber sie ticken in deutlich verlangsamter Zeit: 8 Minuten und 31 Sekunden –exakt die Zeit, die das Sonnenlicht bis zur Erde braucht – sind 90 Minuten Performance. In der Mitte der Raumanordnung steht ein langer Tisch, an dem diskutiert wird. Diesmal ist es eine Abordnung der „Silent University“ – eine dem Festival angegliederte Plattform, die Akademikern, die aufgrund ihres Aufenthaltsstatus nicht als Lehrende arbeiten dürfen, die Möglichkeit gibt, ihr zum Schweigen gebrachtes Wissen wieder hörbar zu machen – die debattiert. Auf Englisch, wie überhaupt die ganze „Aufführung“ in dieser Nachmittagsausgabe englisch spricht.
Das sei ein Tribut an die zunehmende Internationalisierung, gibt Florian Malzacher, künstlerischer Direktor der „Impulse“, zu Protokoll. An einem anderen Tisch bereitet ein Koch einen delikaten Erdbeersalat mit Mandeln und Basilikum zu, den er dem Publikum anbietet. Ferner gibt es ein Archiv, man kann sich Kopfhörer aufsetzen und Vorträgen lauschen oder sich den Führern anschließen, die mit leiser Stimme verwirrende Geschichten über die sogenannte „Institution“ erzählen. Man kann flanieren oder auch nur dreimal Erdbeeren essen. Das Ganze entwickelt in seiner Mischung aus Beiläufigkeit und geheimnisvollem Treiben einen gewissen poetischen Reiz. Allerdings erschöpft dieser sich doch allzu rasch und irgendwann langweilen die Wiederholungen.
An „Die Aufführung“ schließt sich eine Diskussionsrunde an, die das Festivalmotto „Gesellschaftsspiele“ mit der Fragestellung: „Mehr als ein Spiegel. Was ist politisches Theater heute?“ vertiefen soll. Unter der Leitung des Journalisten Stefan Keim diskutieren Monika Gintersdorfer, Margarita Tsomou, Festivalleiter Malzacher und – zu spät kommend – Milo Rau über Formen und Strategien eines sich politisch verstehenden Theaters.
Einig ist man sich darin, dass die „Werkzeuge sich verändern“ und die Zeit allmählich vorbei ist, in der die Fronten kaum mehr zu erkennen waren. „In letzter Zeit sehen wir doch wieder klare Gegner“, behauptet Malzacher. Das Theater sei aber immer noch viel zu langsam, zumindest das institutionalisierte, monierte Monika Gintersdorfer und plädierte als Pendant zu den „breaking news“ der Medien „breaking performances“. So viel Zeit wie möglich will sich dagegen Milo Rau nehmen, der für Konzeption und Durchführung seiner Reenactment-Projekte oft Jahre braucht.
Aus dem Publikum kam der Einwand, das Stadttheater doch besser nicht so vorschnell zu entsorgen, da man das so herbeigeredete erweiterte Publikum viel eher im Stadttheater als in den hermetischen Zirkeln der Off-Szene erreiche. Das sei „zu idealistisch“ gedacht. Auch Moderator Keim fragt, ob denn das, was der „normale“ Zuschauer wolle, nämlich gute Geschichten von guten Schauspielern erzählt zu bekommen, gar nicht mehr vorkommen solle? „Wenn ich das will, gucke ich amerikanische TV-Serien“, kontert Malzacher und pariert selbstironisch den – unausgesprochenen – Vorwurf des Verkopften: „Wir sitzen ja nicht nur und lesen Derrida!“
Tatsächlich hat man an diesem dritten Festival-Tag sehr stark den Eindruck eines Branchen-Treffs: Die Hamburger Intendantin Karin Beier sitzt im Publikum, Dramaturgen, Regisseure, Funktionäre fördernder Gremien. Die Fragen aus dem Publikum sind lupenreine Fachfragen aus dem inner circle der Szene. „Das war immer so, dass die ‚Impulse‘ auch ein Branchentreff sind, das Festival will auch die Möglichkeit bieten, sich einen Eindruck zu verschaffen, was im deutschsprachigen Raum so passiert“, so Malzacher. Und das ist zunehmend international, wie die Produktion „Das neue schwarze Denken – Chefferie“ von Gintersdorfer & Klaßen, wo ein dreisprachiges deutsch-ivorisches Performer-Team auf der Bühne steht und mit vollem Körpereinsatz neue und alte Afrikaklischees aufs Korn nimmt.
Nachdem die Kunststiftung NRW sich überraschend aus der Förderung der „Impulse“ zurückgezogen hatte, stand das Festival auf der Kippe. Erst im Januar war in neuem Rhythmus die Weiterexistenz gesichert. Dank neuer Förderer konnte von einem „relativ stabilen Etat“ gesprochen werden. Die Bestandsaufnahme des Off-Theaters wird nun jedes Jahr stattfinden. 2016 wird das Festivalzentrum in Düsseldorf sein.
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