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Archiv-Artikel

Du kennst mich doch gar nicht

LESUNG Teju Cole las am Mittwoch im LCB am Wannsee aus seinem kürzlich erschienenen Lagos-Roman „Jeder Tag gehört dem Dieb“ vor vollem Haus

Teju Cole setzt sich vor das Publikum und legt seine Baseballcap auf dem Tisch ab, auf der ein X abgebildet ist. Von seinem Platz aus sieht er den Saal der Gründerzeitvilla, in der das Literarische Colloquium beheimatet ist, im hinteren Teil einen Kronleuchter und links durch die Fenster des Erkers den Wannsee.

Der amerikanisch-nigerianische Autor ist seit „Open City“ (2011) einer der angesagtesten Autoren der Gegenwart. Das LCB ist am Dienstag voll besetzt, so dass Gäste selbst auf dem Boden Platz nehmen müssen. Cole liest aus „Jeder Tag gehört dem Dieb“, ein Roman, der bereits 2007 in Nigeria veröffentlicht wurde, aber erst kürzlich in deutscher Übersetzung bei Hanser erschienen ist. Das Werk, das auf Blogeinträgen basiert, ist nach Cole ein Versuch, „in eine der kompliziertesten Städte der Welt einzutauchen.“ Der Ich-Erzähler kehrt nach einigen Jahren in den USA nach Lagos, seine nigerianische Heimatstadt, zurück.

Er liest klar und deutlich

Der Schauspieler Mehmet Yilmaz und Teju Cole lesen im Wechsel, Deutsch und Englisch. Cole spricht klar und deutlich. Richtig spannend wird es erst zwischen der Rezitation. Wenn etwa die Literaturkritikerin und Autorin Ina Hartwig, die den Abend moderiert, über Vergleiche mit W. G. Sebald sinniert oder im Publikum die Frage aufkommt, warum erst spät die Hautfarbe des Protagonisten thematisiert werde. Was Cole zeitverzögert überrascht, nachdem ihm die Dolmetscherin die Frage übersetzt. „Die Realität ist nicht so, dass ich aufstehe und sage: ‚Ich bin schwarz, der Tag kann beginnen.‘ “ Er grinst. Das Publikum lacht. Cole spricht von komplexen Identitäten und davon, dass er Kategorien wie Rasse, Klasse oder Sexualität einer Person nur dann erwähnt, wenn sie für den Kontext relevant sind.

Plötzlich wird auch in diesem Raum, dessen Wände mit Schwarz-Weiß-Fotografien literarischer Größen geschmückt sind, die Frage nach der Hautfarbe aktuell: Es ist ein überwiegend weißes Publikum, das hier einem schwarzen Schriftsteller gegenüber sitzt. Wie häufig denken sie darüber nach, ob ein Romanprotagonist weißer Hautfarbe ist? Auf die Frage, ob er in künftigen Werken tiefer in die nigerianische Kultur eintauchen will, erwähnt Cole, dass er fließend Yoruba spricht und dass allein das sein Denken und Schreiben beeinflusse. Dann schweigt er kurz und sagt ironisch: „Wie auch immer, ich liebe es zu tanzen, und das ist rein afrikanisch.“

Irgendwie taucht der Himmel, der sich innerhalb kürzester Zeit von Hellblau-Orange bis hin zu Rosa-Lila und Dunkelblau wandelt, den Saal in eine eigentümliche Melancholie. Eine Frau mit roten Schuhen streicht sich durchs Haar und verharrt in Denkerpose. Eine andere, die einen Bleistift in der Hand hält, gähnt.

Diskussionen über künstlerische Vorbilder folgen, über Religion, über sanfte Momente, die Rezeption des Buchs in Nigeria und das Böse, das Aggressive, das dem Protagonisten von Coles Roman innewohnt. Die ständigen Übersetzungen ermüden, die humorvolle Art von Cole hält wach.

„Mir wird immer gesagt, dass meine Erzähler so distanziert, so angsteinflößend seien. Aber dass ich dagegen so nett wäre“, sagt Cole lachend. So ist seine Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen zu erkennen. „Ich antworte dann immer: ‚Es ist Fiktion.‘ “ Dann lässt er seine Stimme tiefer werden. „Aber was ich wirklich denke, ist: ‚Du kennst mich doch gar nicht.‘ “

Jede Pointe sitzt. Der Abend endet, als die Wasserkaraffe vor Cole fast leer ist. Applaus, danke, leere Stühle. Raucher strömen nach draußen auf die Terrasse.

JASMIN KALARICKAL

■ 30. Juni, Lesung von Teju Cole gemeinsam mit Daniel Kehlmann, wieder im LCB