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Die Mehrheit wertet, richtet und verletzt

MIGRATION Christina Antonakos-Wallace wendet sich mit einer Website und mit einem Filmprojekt gegen Zuschreibungen

Schulbücher behandeln Migration überwiegend als Problem statt als Normalfall

VON HILKE RUSCH

Christina Antonakos-Wallace hat Ausdauer. Seit fast zehn Jahren betreibt die Dokumentarfilmerin ihr Projekt „With Wings and Roots“ parallel in Berlin und New York. Über 80 Mitstreiter_innen unterstützten sie im Laufe der Jahre, erstellten Bildungsmaterialien, führten Workshops durch, berieten das Projekt wissenschaftlich oder bastelten an der interaktiven Website www.reimaginebelonging.de. „With Wings and Roots“ lässt sich als Versuch beschreiben, den reduzierten Blick auf Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsbiografie zu erweitern und vermeintliche Eindeutigkeiten aufzubrechen.

Antonakos-Wallace geht es um eine Gegenerzählung, in der die Diversität von Identitäten und Zugehörigkeiten im Mittelpunkt steht. Sie begann, mit der Kamera Geschichten von Menschen aus New York und Berlin zu sammeln – sie selbst lebt in beiden Städten. Die transnationale Perspektive war ihr wichtig, denn, so sagt sie, es gibt sehr unterschiedliche Formen von Ausschluss und Diskriminierung: „In Deutschland gibt es beispielsweise eine Obsession für die deutsche Sprache, es geht immer darum, wie perfekt jemand die Sprache spricht – aber gibt es das überhaupt: eine Sprache perfekt sprechen?“

Vier ausgewählte Erzählungen werden im Dokumentarfilm „With Wings and Roots“ zu sehen sein, 50 weitere wurden für das Website- und Bildungsprojekt www.reimaginebelonging.de aufbereitet. Das richtet sich an Jugendliche und ist seit Kurzem online.

Die Website empfängt nicht mit einem starren Korsett, vielmehr lässt sich ein eigener Weg durch das Material bahnen – zum Beispiel entlang eines Themas wie Glaube, Rassifizierung oder Sexualität. Dabei ergibt sich ein Tableau sehr unterschiedlicher, persönlicher Geschichten: Malik hat einen türkischen Vater und bezeichnet sich – da er sowieso nicht als Deutscher wahrgenommen wird – als Deutsch-Türke, obwohl er den deutschen Pass hat und kein Türkisch spricht. Ipek entschied sich, Deutsche zu werden, damit sie ohne Angst vor einer Ausweisung politisch aktiv sein kann. Millay erzählt von ihrer Sehnsucht, anzukommen und dazuzugehören.

Als Weiße durch die Website zu navigieren, ermöglicht nicht nur, den Blick auf „die Migrant_innen“ zu erweitern, da Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven zu Wort kommen, es entsteht zeitgleich ein Bild der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Und das ist nicht sonderlich schmeichelhaft: Die rassistischen Alltagserfahrungen der Protagonist_innen zeigen, dass der Blick der Mehrheitsdeutschen auf „die Anderen“ ziemlich schlicht ist, dass er bewertet, richtet, verletzt: Ganz selbstverständlich etwa wurde Gil in der Grundschule von Mitschüler_innen als „Schlitzauge“ bezeichnet, Lale bekam trotz guter Noten eine Hauptschulempfehlung.

Alle, die auf der Website berichten, haben einen kleineren oder größeren Kampf um ihr Selbstverständnis hinter sich. Aber nicht wenige erzählen selbstbewusst von einer Identität, die den Anforderungen nach Eindeutigkeit so gar nicht entspricht, mit der sie sich aber sehr wohl fühlen.

Ähnlich geht es Christina Antonakos-Wallace: In der griechisch-amerikanischen Community fiel es ihr schwer, als Frau und queere Person einen Platz zu finden, gleichzeitig gab ihr die orthodoxe Gemeinschaft Halt und Wärme – und sie verteidigte deren traditionelle Werte. Ausgerechnet eine neue Diskriminierungserfahrung veranlasste sie, ihr Verständnis von Zugehörigkeit zu hinterfragen. Als sie während eines Aufenthalts in Griechenland immer wieder für eine Albanerin gehalten und von verschiedenen Orten ausgeschlossen wurde, begann sie, Ideen von Nation, „Rasse“ und Grenzen infrage zu stellen: „Die Vorstellung, dass es eine lineare Entwicklung vom antiken zum heutigen Griechenland gibt, ist zwar hübsch, aber nicht viel mehr als Mythologie“, sagt die studierte Künstlerin und Sozialwissenschaftlerin. Diese Erzählung sei die Basis, um so etwas wie eine homogene Nation zu behaupten.

Jungen Menschen diese Perspektive nahezubringen, gehörte zu ihren Anliegen. Und so verdeutlicht auch der zweite Bereich auf der Website, dass Nationen, „Rassen“ und „Kulturen“ nicht naturgegeben sind und Migration kein modernes Phänomen ist. 140 Jahre deckt eine Zeitleiste ab, auf der die Berliner Afrikakonferenz ebenso zu finden ist wie Arbeitsmigration in der Weimarer Republik oder die Einstufung von Bosnien- und Herzegowina, Mazedonien und Serbien als sichere Herkunftsstaaten. Und: Widerständige Perspektiven wie die Selbstorganisation von Sinti und Roma in der Nachkriegszeit oder die maßgeblich von türkischen Arbeitnehmer_innen getragenen wilden Streiks bei Ford 1973 haben hier einen Platz.

Damit versucht die Website zu ergänzen, was Schulbücher versäumen. Denn diese verhandeln Migration laut einer aktuellen Studie im Auftrag von Staatsministerin Özoguz ganz überwiegend als Problem statt als Normalfall. Damit im Unterricht eine Diversität gelehrt wird, wie sie in den Klassenzimmern selbst längst existiert, entwickelt das Projekt „With Wings and Roots“ derzeit Lehrmaterial für die Arbeit mit der Website.

www.reimaginebelonging.de

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