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Archiv-Artikel

Vom kaputten Leben

LITERATUR Lotta Lundberg stellt in dem Roman „Zur Stunde null“ die großen Fragen des Lebens – anhand der Biografien dreier Frauen

„Auf Schwedisch gibt es das Wort ‚Vergangenheitsbewältigung‘ gar nicht“

LOTTA LUNDBERG

VON HENRIETTE HARRIS

In Lotta Lundbergs neuem Roman werden die ewig aktuellen großen Sinnfragen gestellt: Tauge ich? Liebt mich jemand? Was hat das Ganze überhaupt für einen Sinn? Lotta Lundberg, Schwedin aus Uppsala, lebt seit elf Jahren in Berlin. Die ausgebildete Politologin ist vor allem Schriftstellerin. Sechs Romane hat sie bereits veröffentlicht, sie schreibt aber auch für das Feuilleton der schwedischen Tageszeitung Svenska Dagbladet. Mit „Zur Stunde null“ ist erstmals einer ihrer Romane ins Deutsche übersetzt worden.

Die drei existenziellen Fragen werden in Lundbergs Roman mit den Lebensgeschichten dreier Frauen verwoben. Hedwig, Isa und Ingrid kämpfen jeweils in Berlin 1945, in Uppsala 1983 und auf einem Schäreninsel 2005 um ihre seelische Gesundheit. Der Stil von Lundberg ist gleichzeitig einfühlsam und trocken, sarkastisch und observierend. Genau wie die Frauen, die sich nichts sagen lassen, aber trotzdem mit ihren Beziehungen zu anderen Menschen nicht klarkommen. Nur die Geschichte von Isa wird in Ich-Form erzählt, die anderen nicht. Die junge Frau macht eine Therapie, hat ziemlich schräge Ideen – und kommt dennoch wie die wahre Gesunde rüber.

Lundberg mischt den Zweifel aller drei mit einem Hauch skandinavischem Zynismus und lässt ohne viel Mitleid Ingrids Mann an Parkinson leiden. Gleichzeitig hat Isa, die nicht weiß, ob sie schwanger ist oder nicht, einen Traum vom an Parkinson leidenden ehemaligen Papst Johannes Paul. In ihrem Traum steht der morgens auf, es ist Zeit für seine Parkinson-Medizin. In seinem Schlafzimmer steht ein Aquarium mit Quallen-ähnlichen Lebewesen, die aber menschliche Föten sind. „Er steckt zwei Finger in das Aquarium, fischt einen Embryo heraus, stopft ihn sich in den Mund und schlurft ihn wie eine Auster.“ Forschung zeigt, dass Stammzellen aus Embryos vielleicht Menschen mit Parkinson helfen können. Ob das wohl eine Möglichkeit für den Überkatholiken gewesen wäre?

Einen Punkt machen

Beim Gespräch in Berlin sagt Lotta Lundberg, eine zierliche Frau, deren grüne Augen heiter wirken: „Irgendwann geht das Leben kaputt, oder es fällt einfach in sich zusammen, und dann stellen sich die gleichen Fragen.“ Für sie ist der Titel nicht nur eine Anspielung auf das Kriegsende 1945, als Deutschland moralisch und physisch so am Ende war, dass es gar nicht mehr existierte. „Als Schriftsteller muss man einen Punkt machen, bevor man einen Satz anfängt. Man muss Schluss machen können. Das gilt in der Psychologie, in der Mythologie, in der Religion. Überall“, sagt sie.

Damit sei nicht gesagt, dass die „deutschen“ Themen keine Rolle im Buch spielen. Fragt man Lotta Lundberg, was die Schweden an Deutschland interessiert, und worüber sie in ihren Artikeln über Deutschland schreibt, antwortet sie schmunzelnd: „Das kann ich ja selbst entscheiden. Mir geht es um die Fragen, die wir in Schweden oft vermeiden, weil wir davon wenig Ahnung haben. Fragen wie Schuld, Gnade, Verantwortung, Scham. Große Themen, mit denen wir in meinem schönen, aber verwöhnten und unerfahrenen Land, nicht so beschäftigt sind. Auf Schwedisch gibt es zum Beispiel das Wort ‚Vergangenheitsbewältigung‘ gar nicht.“

Im März wurde Lotta Lundberg mit dem renommierten Literaturpreis des Schwedischen Rundfunks ausgezeichnet. Die Begründung: „Weil sie mit unbezwinglicher sprachlicher und förmlicher Brillanz die Suche nach der inneren Berufung, den äußeren Spielregeln und der grenzenlosen Liebe schildert.“ Hedwig, Ingrid und Isa haben den Mut, unkonventionelle Fragen zu stellen, sie drücken sich nicht, und alle drei müssen einen Preis dafür zahlen, kein braves Mädchen zu sein. Im Roman werden ihre Erfahrungen zu Antworten auf die existenziellen Fragen. So wie im richtigen Leben.

Tatsächlich hat eine historisch real existierende Person Lotta Lundberg zu einer der Geschichten im Roman inspiriert. Das Buch ist der schwedisch-israelischen Journalistin und Schriftstellerin Cordelia Edvardson gewidmet. Edvardson, geboren 1929 in München, gestorben 2012 in Stockholm, war die uneheliche Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer und des Juristen Hermann Heller, der jüdischer Herkunft war. Langgässer, die selber jüdische Wurzeln hatte, ließ ihre Tochter von einem spanischen Ehepaar adoptieren, um die nationalsozialistischen Rassengesetze zu umgehen.

Im Benediktinerkloster

Doch die Gestapo bedrohte ihre Mutter, sodass Cordelia wie verlangt die doppelte Staatsbürgerschaft annahm – und erst nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz deportiert wurde. Cordelia überlebte das Lager und zog nach dem Krieg nach Schweden, wo sie bis in die siebziger Jahren als Journalistin wirkte. Dann ging sie als Radiokorrespondentin nach Israel, und in Uppsala lauschte die kleine Lotta Lundberg ihren Reportagen.

Seit einigen Jahren zieht sich Lundberg ab und an ins Kloster Anastasiendorf 50 Kilometer südlich von Berlin zurück, um bei den 28 Benediktinerschwestern in Ruhe und Stille arbeiten zu können. Nach fünf Jahren sagt ihr eines Tages eine Nonne, dass sie nicht die erste Schriftstellerin im Kloster ist. Vor vielen Jahren hat am gleichen Platz eine andere gearbeitet: Elisabeth Langgässer. Für Lotta Lundberg schloss sich der Kreis. Und nun für den Leser auch.

■ Lotta Lundberg: „Zur Stunde null“. Aus dem Schwedischen von Nina Hoyer. Hoffmann und Campe, 384 Seiten, 20 Euro