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Archiv-Artikel

Trickkiste Bürokratieabbau

SOZIALES Die neue „Bürokratiebremse“ führt dazu, dass soziale Innovationen, wie Mitbestimmung oder Teilhabe von Behinderten, verlangsamt werden

Johannes Heuschmid

■ Arbeitsrechtler und stellvertretender Leiter des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht in Frankfurt am Main. Seine Schwerpunkte sind kollektives und europäisches Arbeitsrecht.

Das Bundeskabinett hat am 25. 3. 2015 unter Federführung von Wirtschaftsminister Gabriel das Bürokratieentlastungsgesetz beschlossen. Damit soll auch die „Bürokratiebremse“ nach dem „One in, one out“-Prinzip in Form einer Selbstverpflichtung der Bundesregierung umgesetzt werden. Letztere war Bestandteil eines vom Bundeskabinett bereits im Dezember 2014 beschlossenen Maßnahmenkatalogs zum Bürokratieabbau. Auch die EU- Kommission befindet sich schon länger auf einem Kreuzzug gegen die Bürokratie. Höhepunkt war zuletzt die Vorstellung eines neuen Maßnahmenpakets für „bessere Gesetzgebung“ durch den Ersten Vizepräsidenten Timmermanns am 19. 5. 2015 in Straßburg. Er schlägt ein bürokratisches Monstrum zum Bürokratieabbau vor.

Das „Bürokratiekonto“

Bürokratieabbau und bessere Gesetzgebung hören sich modern an und scheinen gut in den Zeitgeist zu passen. Doch stimmt das? Die ab Juli 2015 anwendbare „Bürokratiebremse“ verpflichtet die einzelnen Bundesministerien bei Gesetzesvorhaben, die den Erfüllungsaufwand der Wirtschaft erhöhen, für gleichwertige Entlastungen zu sorgen. Im Klartext: Wird eine gesetzliche Regelung vorgeschlagen, die höhere Kosten für Unternehmen bedeutet, muss das Ministerium an anderer Stelle für Entlastung sorgen.

Für jedes Ministerium wird deshalb ein „Bürokratie-Konto“ geführt, das spätestens am Ende der Legislaturperiode auf null stehen soll. Administriert wird das Programm von einem „Staatssekretärsausschuss Bürokratieabbau“ in Kooperation mit dem Normenkontrollrat der Regierung.

Kurzum, Rechtsetzung ist nach dem „One in, one out“-Prinzip nur noch dann zulässig, wenn sie im Rahmen einer Gesamtbetrachtung keine zusätzliche Belastung der Wirtschaft herbeiführt. Ausnahmen gelten nur für die im Koalitionsvertrag bereits beschlossenen Maßnahmen.

Was aber bedeutet das für Bereiche, deren ureigene Aufgabe gerade darin besteht, die Aktivitäten der Wirtschaft zum Wohl der Allgemeinheit in geordnete Bahnen zu lenken? Naturgemäß verursacht dies auch Kosten.

Einer dieser Bereiche ist die Arbeits- und Sozialgesetzgebung. In nächster Zeit wird hier deshalb die Frage zu klären sein, in welchem Umfang Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag, wie etwa die Einführung des Equal-pay-Grundsatzes für die Leiharbeit, das Entgeltgleichheitsgesetz oder die Revision der Arbeitsstättenverordnung im Rahmen der Bürokratiebremse zu berücksichtigen sind. Besonders interessant ist darüber hinaus, welche Auswirkungen von der Bürokratiebremse auf künftige Gesetzgebungsvorhaben ausgehen werden. Ist etwa eine Erweiterung der Mitbestimmung nicht mehr möglich, weil sie die Kosten für Unternehmen erhöht? Wie verhält sich die Bürokratiebremse zu weiteren Maßnahmen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung?

Ausgleich für Mindestlohn?

Rein hypothetisch kann man sich schließlich überlegen, wie umfangreich die Kompensationsmaßnahmen für die Einführung des Mindestlohns hätten ausfallen müssen, wenn die Bürokratiebremse damals schon wirksam gewesen wäre. Immerhin wurde der Erfüllungsaufwand dort auf etwa 9,6 Milliarden Euro geschätzt. So einen Kontostand muss man erst einmal ausgleichen.

Daher dürfte die Bürokratiebremse zu einer Verlangsamung beziehungsweise zu einem Ausbremsen der (sozial) regulierenden Gesetzgebungsmaschinerie führen. Anschauungsmaterial liefert aktuell die EU-Kommission. Diese hat zuletzt den gesamten Bestand an EU-Richtlinien zum Arbeits- und Gesundheitsschutz im Rahmen ihres Bürokratieabbauprogramms auf den Prüfstand gestellt.

Da es bei der Arbeits- und Sozialregulierung nicht selten darum geht, kostenträchtige Verfassungsaufträge umzusetzen, ist es zweifelhaft, ob die Bürokratiebremse mit dem Sozialstaatsprinzip und der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes in Einklang gebracht werden kann. Auch besteht ein erhebliches Potenzial an Kollisionen mit dem Demokratieprinzip. Demokratie lässt sich nicht nach Buchhaltungsregeln steuern. Davon abgesehen wird die im „One in, one out“-Prinzip begründete schematische Herangehensweise den komplexen politischen Aushandlungsprozessen in der Praxis nicht gerecht.

Warnbeispiel Großbritannien

Nun ließe sich einwenden, dass die Bürokratiebremse als Selbstverpflichtung der Bundesregierung den Bundestag als Legislativorgan nicht bindet. So richtig das ist, so schwach fällt der Trost aus, wenn man sich vor Augen führt, dass die überwiegende Anzahl der (erfolgreichen) Gesetzesinitiativen von der Bundesregierung auf den Weg gebracht werden.

Nicht zuletzt bestehen erhebliche methodische Zweifel an der validen Darstellung der Kosten, etwa beim Mindestlohngesetz. In einer Ausschussdrucksache vom Juli 2014 heißt es dazu: „Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass eine belastbare Berechnung des Erfüllungsaufwandes nicht möglich ist. Dazu müssten eine Reihe von Annahmen getroffen werden, für die es nicht hinreichend fundierte Grundlagen gibt.“ Stimmt. Trotzdem wurde die Bürokratiebremse im November 2014 eingeführt.

In Großbritannien hat man schon die „One in, two out“-Variante eingeführt – es geht um eine Deregulierungsagenda

Im Vereinigten Königreich, in dem das „One in, one out“-Prinzip erfunden wurde, hat man inzwischen die „One in, two out“-Variante eingeführt. Dies zeigt deutlich, dass hinter dem Bürokratieabbau eigentlich eine umfassende Deregulierungsagenda steht.

Höchste Zeit also, den Kreuzzug gegen die Bürokratie zu hinterfragen und gegenzusteuern. Ein erster Schritt könnte ein Zusammenschluss von Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren sein. Als Blaupause bietet sich die aktuell von 50 NGOs gegründete „Better Regulation Watchdog“-Plattform an, die sich kritisch mit dem Bürokratieabbauprogramm auf EU-Ebene auseinandersetzt. Weitere Schritte müssen folgen!

Übrigens: Der amtliche Bürokratiekostenindex des Statistischen Bundesamts steht gegenwärtig, trotz Einführung des Mindestlohns, auf dem niedrigsten Stand seit drei Jahren. Vielleicht wäre es sinnvoll, die Ressourcen der Bundesregierung auf die wirklichen Probleme zu konzentrieren.

JOHANNES HEUSCHMID