: Machtkampf um die Wähler und das System Erdogan
TÜRKEI Großer Andrang an den Wahlurnen. Bombenattentat vom Freitag überschattet Wahl
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Trotz großer Spannungen verlief der gestrige Wahltag in der Türkei weitgehend friedlich. Beobachter berichteten von großem Andrang an den Wahllokalen, es wird mit einer Wahlbeteiligung von über 80 Prozent gerechnet. Überschattet worden war der Wahlkampf von einem schweren Bombenattentat am Freitagnachmittag in der kurdischen Metropole Diyarbakir. Bei der Abschlusskundgebung der linkskurdischen Partei der Völker HDP, an der mehrere hunderttausend Menschen teilnahmen, wurden im Abstand von einer Minute zwei Bomben gezündet. Zwei Menschen starben sofort, zwei weitere wenig später. Rund 200 Menschen wurden verletzt, zwanzig von ihnen sollen sich in Lebensgefahr befinden.
Nachdem die Regierung zunächst behauptet hatte, es habe sich um einen Unfall durch eine Explosion in einer Trafostation gehandelt, räumte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Samstag ein, dass es sich um einen Anschlag gehandelt habe. Er verurteilte diese Provokation als „Anschlag auf die Demokratie“. Verschiedene kurdische Sprecher bezichtigten dagegen Sympathisanten der Regierung, für den Anschlag verantwortlich zu sein. Der gesamte Wahlkampf war geprägt von der Angst vor Zwischenfällen, insbesondere gegen die HDP. Insgesamt 160 Angriffe auf die HDP zählte die Menschenrechtsorganisation IHD während des Wahlkampfes, kein Mensch, so HDP-Spitzenkandidat Selahattin Demirtas, ist deswegen verhaftet worden. Stattdessen hat die Polizei am Samstag in verschiedenen Provinzen Wahlhelfer der HDP verhaftet, die eigentlich am Sonntag als Wahlbeobachter für eine faire Auszählung sorgen sollten. Der 48-jährige Kurde Ramazan Talay in Diyarbakir sagt: „Wir müssen Erdogan stoppen, weil er zu einem echten Diktator wird, wenn er ein noch mächtigerer Präsident wird.“ Talay kritisiert die ungleiche Ausgangslage vor der Wahl. „Der Wahlkampf war nicht fair“, sagt er.
Dass die Opposition den Wahlkampf als ungerecht empfindet, liegt besonders an Erdogan. Bei Dutzenden Veranstaltungen in den vergangenen Wochen griff er vor allem die HDP an, obwohl die Verfassung den Präsidenten zur Neutralität verpflichtet.
Dass sich die Aufmerksamkeit im Wahlkampf vor allem auf die HDP konzentrierte, hängt damit zusammen, dass gerade die kurdische Partei die zukünftige Zusammensetzung des Parlaments entscheidend beeinflussen kann. Kommt sie über die 10-Prozent-Hürde ins Parlament, wird die Regierungspartei AKP wahrscheinlich ihre absolute Mehrheit verlieren und müsste sich einen Koalitionspartner suchen. Eine verfassungsändernde Mehrheit, um ein Präsidialsystem nach den Wünschen von Präsident Erdogan einzuführen, wäre vollends aussichtslos.
Allerdings lassen die Reaktionen vieler Befragter darauf schließen, dass die Attacken auf die HDP viele Wähler erst recht dazu bewogen haben, erstmals der prokurdischen Partei ihre Stimme zu geben. Aber auch die kemalistisch-sozialdemokratische Opposition CHP hofft auf einen signifikanten Stimmenzuwachs, denn erstmals seit dem Regierungsantritt der AKP 2013 sagen die Umfragen einen Stimmenverlust voraus. Bereits in den letzten Tagen vor der Wahl wurde deshalb von vielen politischen Beobachtern darüber spekuliert, ob Präsident Tayyip Erdogan eine Niederlage an den Wahlurnen akzeptieren wird.