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Freitagmorgen. Die U11, die einzige Linie mit direkter Kirchentagsanbindung, fährt ein. Doch die Türen bleiben verschlossen. Zu voll. Von wegen! Da geht noch was. Da ist noch Luft. In Tokio gibt es U-Bahn-Quetscher, in Stuttgart werden Menschen vor zu viel Nähe behütet. Überhaupt: Das mit dem öffentlichen Nahverkehr haben die nicht so raus hier. Keine Sondershuttlebusse, keine Infos, nichts als Warteschlangen.
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Margot Käßmann, heimlicher Superstar jedes Kirchentags, spricht auf dem roten Sofa der Kirchenpresse. Wie geht’s den Kindern, Enkelkindern? Smalltalk zu Beginn, dann zur Sache: „Was ist Reformation?“ „Was bedeutet Luther für Sie?“ „Muss man sich wirklich immer streiten?“ Die frühere Ratsvorsitzende der EKD ist Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017. Die Zuschauer wirken von der Sonne geplättet, klatschen sporadisch, alle Schattenplätze sind belegt. Käßmann zitiert Nietzsche: „Die Christen müssten mir erlöster aussehen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte.“
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„Heute vor einem halben Jahr bin ich zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt worden“, sagt Bodo Ramelow, prominentester Christ der Linkspartei, und erhält einen Beifall in der Stuttgarter Liederhalle, dass dieser zum Baden in ihm einlud. Vorher hatte er sich – Nettozeit: 30 Minuten – an der biblischen Stelle Prediger 3.9–13 abzuarbeiten: „Ja, wo immer Menschen essen und trinken, Gutes wahrnehmen in all ihrer Mühe, ist das ein Geschenk Gottes.“ Ramelows Stichwort war „Mühe“ – die ein Mensch nicht scheuen sollte, aber sich nur lohne, wenn es jenseits der Arbeit noch Räume und Zeiten gebe, in Familie, unter Freunden oder für sich zu sein. Gott habe die Welt schön gemacht – sie dürfe nicht hässlich werden, erstickt durch Ausweitung der Arbeitszeiten (Ladenschlussgesetz), durch ewige Optimierung des Ökonomischen – und so weiter.
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Wenn Christen schwitzen. 8 Uhr: 20 Grad. 10 Uhr: 22 Grad.
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Markenzeichen des Stuttgarter Kirchentages ist der rote Schal. Die Besucher tragen ihn als Kopftuch, um den Bauch gebunden oder locker an den Gürtel gehängt. Damit sind die Kirchentagsgänger schon von Weitem zu erkennen. Freiwillige Helfer verkaufen den Schal fast überall. Für drei Euro ist er ein relativ preiswertes Andenken – vielleicht zu preiswert. Denn das Ganze hat, wie man hier unten sagt, ein Gschmäckle. Für die auf Klimaschutz und Umweltfreundlichkeit getrimmte Großveranstaltung wurden die Schals aus Indien eingeflogen. Die Firma True Balance hat zwar einen Sitz im schwäbischen Eningen – produziert werden die Textilien jedoch im indischen Bangalore. Dort hat das Unternehmen seinen zweiten Hauptsitz.
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Klar, eine Rede hat Angela Merkel auch gehalten – zwanzig Minuten, pro forma. „Digital und klug?“ war das Thema ihres Besuches beim Kirchentag. Dementsprechend sprach sie von Industrie 4.0 und davon, dass man in Deutschland aufpassen müsse, nicht abgehängt zu werden im Umgang mit dem Netz. Alles wichtig und dringlich und so. Inhaltlich trotzdem Kiloware. Wesentlich interessanter war die Kanzlerin in der Podiumsdiskussion danach. Vor den 9.000 Besuchern in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle gab sie die beste Figur ab. Unaufdringlich charmant, teilweise sogar keck. Und sie zeigte, dass sie das Internet wesentlich besser versteht, als es manchmal scheint. Ob absichtlich oder nicht – ihre Gesprächspartner machten es ihr einfach. Petra Grimm vom Institut für Digitale Ethik forderte blödsinniges Zeug wie ein öffentlich-rechtliches Facebook. Und Astrophysiker-Fernsehmoderator Harald Lesch warf mit heimatfilmkompatiblen Allgemeinplätzen um sich: dass ein Sonnenaufgang in echt anders aussehe als im Netz. Jaja, blabla.
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Wenn Christen schwitzen. 12 Uhr: 27 Grad. 14 Uhr: 29 Grad. 16 Uhr: 31 Grad.
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Gefühlte 90 Prozent der Kirchentagsbesucher sind – für alle, die es noch nicht wussten – Pfadfinder. Und für die, die auch das noch nicht wussten: Sie sind sehr anständig. An Ampeln sind sie gar das personifizierte schlechte Gewissen. Hunderte Jünger in Hemden und mit vor Abzeichen schwellender Brust starren all diejenigen an, die bei Rot die Straße überqueren. Wer wirft den ersten Stein?