: Die Zeit, die uns entfaltet
ERINNERUNG Die Kettenreaktion als literarisches Prinzip: Ruth Schweikert erzählt in „Wie wir älter werden“ von Täuschung und Verantwortlichkeit
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Ein Roman in 69 Minuten. Zu Beginn steht Jacques Brunold, 86 Jahre alt, Verwaltungsjurist im Ruhestand, in seiner Wohnung und blickt auf die Digitalanzeige seines Weckers. Als er wieder auf die Anzeige sieht, ist er erschrocken; es ist 11.31 Uhr. Es ist Zeit, das Mittagessen vorzubereiten. Dazwischen liegen 260 Seiten. Dazwischen liegen aber auch mehr als 60 Jahre Erinnerung, Dutzende von Leben, mehrere Todesfälle, Unglücke, Verliebtheiten, Enttäuschungen.
Das ist mit Bedacht konstruiert, und die Kunstfertigkeit der aufgesplitterten Erzählweise ist über das gesamte Buch hinweg durchgehalten. Die Leitfragen: Wie erzählt man Zeit und deren Vergänglichkeit? Wie bildet man Erinnerung ab? Die Lösung, die Ruth Schweikert gefunden hat, ist plausibel, bringt aber auch einen erhöhten Schwierigkeitsgrad für die Lektüre mit sich (was keineswegs gegen den Roman spricht): ungeordnet, unsortiert, nicht chronologisch gefügt, sondern eruptiv und assoziativ.
Verzweifelte Promiskuität
Ruth Schweikert hat ihren dritten Roman im gutbürgerlichen Schweizer Milieu angesiedelt. Die Männer sind von Beruf Anwalt oder Fleischermeister; die Frauen versorgen den Haushalt und die Kinder; im Winter fährt man zum Skifahren nach Sils Maria, im Sommer ans Meer oder zum Wandern. Eine geordnete Welt, in der die kleinen und großen Abstürze umso dramatischer erscheinen.
Das heimliche Zentrum, der Gravitationspunkt, ist jener Jacques Brunold. Im Oktober 1950 lernt Jacques im großen Hörsaal der juristischen Fakultät der Uni Basel die aparte Helena Brand kennen. Die beiden sind so etwas wie ein Paar, aus den Augen verlieren sie sich nie, bis Helena ihm überraschend eröffnet, sie werde einen anderen heiraten, den grundsoliden Bauernsohn und späteren Apotheker Emil Seitz. Jacques wiederum vermählt sich mit der nicht weniger soliden Friederike. Beide Ehepaare bekommen je drei Kinder, die erst spät erfahren werden, dass fünf der insgesamt sechs Kinder von Jacques gezeugt wurden. Da ist Miriam, das sechste, bereits seit Langem tot.
„Jacques hatte in Zürich-Höngg eine kleine Einliegerwohnung gemietet, in der sie sich (mit einigen Ausnahmen) von 1965 bis 1995 an jedem ersten Montag des Monats trafen, pünktlich um 18 Uhr.“ Hinter einem derart nüchternen Satz steckt in Wahrheit eine ganze Kette von Täuschungen und Lebenslügen. Und Ruth Schweikert praktiziert in „Wie wir älter werden“ höchst erfolgreich die Kettenreaktion als literarische Gattung.
Der Handlungsrahmen, der sich so übersichtlich zusammenfassen lässt, setzt sich aus einer Reihe fragmentarischer Erzählungen zusammen, in deren Mittelpunkt vor allem die nachfolgenden Generationen stehen: Iris, die Tochter von Helena und Jacques, und Kathrin, Friederikes und Jacques’ Tochter.
Wie eine Puppe aus der Puppe aus der Puppe entblättert Schweikert die Biografien sämtlicher Figuren. Auf diese Weise entsteht ein Flickenteppich von Geschichten, der deutlich machen soll: Lebensläufe verlaufen weder geplant noch logisch, sondern in Kreisen, Rückschritten, Sprüngen. Die Unübersichtlichkeit ist also weder unterlaufen noch ist sie forciert, sondern bloß konsequent. Um jeden Nebencharakter (wie beispielsweise den aus Tschetschenien geflohenen Arzt der Familie) lagern sich in sich weitenden Kreisen Geschichten an. Wenn Ruth Schweikert die Geschichten auserzählt, ist „Wie wir älter werden“ ein gelungenes Buch: Der körperliche Absturz der so schönen wie überbegabten Tochter Miriam; ein Ferienaufenthalt von Iris mit ihrem Sohn in den Bergen, Kathrins verzweifelte Promiskuität – all das sind jeweils fein polierte, stilistisch glänzende Passagen.
Wo fängt die Lüge an
Die Crux liegt wiederum in der Konstruktion selbst. Um all diese weitschweifigen und komplexen Familienzusammenhänge beieinanderzuhalten und um Wegmarken in ihren riesigen historischen Etappen zu setzen, ist Ruth Schweikert einerseits häufig zum nüchternen Resümieren und andererseits zum Abarbeiten historischer Eckpunkte gezwungen. Das liest sich dann eher wie eine Pflichterfüllung.
In der ästhetischen Gesamtheit der Stoffbewältigung läuft also nicht alles glücklich zusammen in diesem Roman; in den vielen starken Momenten allerdings stellen sich die gewichtigen Fragen wie selbstverständlich: Was darf man verschweigen, um andere zu schützen? Wo hört die Rücksicht auf, und wo fängt die Lüge an? Und vor allem: An welchem Punkt kippt das Verantwortlichkeitsverhältnis innerhalb der Generationen und sind urplötzlich die Kinder für das Wohlergehen der Eltern verantwortlich anstatt umgekehrt?
„Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur.“ Ein Satz aus den Tagebüchern von Max Frisch, den Miriam in ihr Notizbuch übernimmt. Den Entfaltungsprozess kann man hier mitlesen.
■ Ruth Schweikert: „Wie wir älter werden“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, 272 Seiten, 21,99 Euro