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Archiv-Artikel

Voll verrechnet

BILDUNG Fast überall in Berlin wird der Platz in den Schulen knapp – in Kreuzberg hat das paradoxe Folgen

In Berlins Schulen wird’s eng

■ Grundlage für die Berliner Schulraumplanung ist die Ende 2012 vorgelegte „Bevölkerungsprognose für Berlin und Bezirke 2011–2030“. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt rechnet darin mit einem Anstieg der Gesamtbevölkerung um rund 7 Prozent auf 3,75 Millionen. Für die sogenannte Schulbevölkerung (6- bis 18-Jährige) wird ein Plus von 20 Prozent erwartet.

■ Die Grundschulen trifft es laut dem neuen Schulentwicklungsplan 2014–2018 der Senatsbildungsverwaltung besonders: Hier wird, allerdings bis zum Schuljahr 2022/23, ein Zuwachs von rund 19 Prozent erwartet. In der Sekundarstufe I (plus 13 Prozent) und in der Oberstufe (plus 9 Prozent) fallen die Zuwächse geringer aus.

■ In den östlichen Bezirken wird es in den Grundschulen besonders eng: plus 40 Prozent in Treptow-Köpenick und Lichtenberg, plus 24 Prozent in Marzahn-Hellersdorf. Ausreißer im Westen ist Spandau: plus 22 Prozent. (akl)

VON ANNA KLÖPPER UND ANNA LEHMANN

Als Lydia Otto den Raum im Lichtenberger Rathaus betritt, weiß sie nicht, wohin sie sich setzen soll. Unsicher flüstert die Schulleiterin dem Mann von der Senatsschulverwaltung zu: „Wo kann ich mich hinsetzen? Gibt es eine Hierarchie?“ Der schüttelt den Kopf. Auch an freien Plätzen mangelt es hier nicht. An der Grundschule an der Victoriastadt in Lichtenberg, die Otto leitet, sieht es ganz anders aus.

Der Bezirksausschuss für Schule und Sport berät an diesem Abend über den neuen Schulentwicklungsplan (SEP) des Senats. Lichtenberg hat ein Problem: Gegenüber dem Stand von 2011 wird die Zahl der Grundschüler bis 2018 um 40 Prozent steigen. Das hieße, es fehlten nach Schätzungen des Bezirks mehr als 3.000 Grundschulplätze. In der Logik der Berliner Schulplaner, die Grundschulen mit maximal vier Zügen empfehlen, hieße das: Allein in Lichtenberg gäbe es fünf komplette Schulen zu wenig.

Mittagessen in der Aula

Deshalb soll die Schule an der Victoriastadt in der Nöldnerstraße ihre Schülerzahl in den kommenden Jahre auf 750 verdoppeln. Eltern und Schüler sind entsetzt. An diesem Abend sind rund 50 Kinder mit ihren Eltern zum Rathaus gezogen, um gegen die Aufstockung zu protestieren. Schon jetzt müssen Schüler auch in der Aula zu Mittag essen, die Klassen werden aufgefüllt. „Einem deutschen Schäferhund steht mehr Bewegungsspielraum zur Verfügung als unseren Kindern“, beklagen die Eltern.

Es ballt sich nicht nur in Lichtenberg, sondern in etlichen Bezirken. Der Schulentwicklungsplan prognostiziert, dass die Schülerzahl bis 2022 um 20 Prozent wächst. Die Kapazitäten sind schon jetzt knapp. In sieben Jahren wären sie schlicht nicht mehr vorhanden.

Anders sieht die Sache in Friedrichshain-Kreuzberg aus – zumindest auf dem Papier: Der Senat geht hier sowohl aktuell als auch in Zukunft von einer Überkapazität an Schulraum aus. Doch an der Hunsrück-Grundschule unweit des Görlitzer Parks will sich eine wütende Elternschaft von solchen Rechenspielen nicht besänftigen lassen.

Die Kreuzberger Vorzeigeschule – viele Gymnasialempfehlungen, wenige Gewaltvorfälle, sozial durchmischte Schülerschaft – soll künftig 125 Kinder mehr aufnehmen: ein Zuwachs um 30 Prozent. Die Hunsrückschule müsste von 3- auf 4-Zügigkeit umstellen. So will es zumindest das Kreuzberger Schulamt, die Bezirksverordnetenversammlung muss den Plänen noch zustimmen. Die Eltern sind empört: „Damit wäre das pädagogische Konzept dieser Schule hinfällig“, sagt Elternvertreterin Iris Gesang.

Dieses Konzept heißt „durchgehende Rhythmisierung“. Die Idee: Jeder Klasse stehen ein Freizeit- und ein Unterrichtsraum zur Verfügung, die miteinander verbunden sind. Ruhe- und Lernphasen sollen sich über den Schultag, der an der Hunsrückschule bis 16 Uhr dauert, abwechseln. „Man hat so nicht mehr diese starre Trennung zwischen Unterricht am Morgen und Hort am Nachmittag wie an anderen gebundenen Ganztagsschulen“, erklärt Gesang.

Es ist ein Prinzip, das Raum braucht. Die Eltern haben deshalb die Initiative „Kinder brauchen Platz!“ gegründet, die Protestaktionen gegen die geplante Aufstockung organisiert und auf Podiumsdiskussionen mit den Bezirkspolitikern diskutiert.

Hauptfeind der Eltern ist der zuständige Kreuzberger Bezirksstadtrat Peter Beckers (SPD). Er sagt, er habe durchaus Verständnis für die Sorgen der Eltern. Aber: „Bei einer Aufstockung der Schülerzahl wird das jetzige Raumkonzept so nicht mehr möglich sein.“

Beckers hat nur ein Problem: Die Schülerzahlen in dem Einzugsgebiet, in dem auch die Hunsrückschule liegt, sind rückläufig. Andere Grundschulen in dem Gebiet, wie etwa die Heinrich-Zille-Schule, klagen dennoch über akuten Platzmangel. Damit Beckers aber für die Sanierung eines Erweiterungsbaus der Zille-Grundschule Geld vom Senat bekommt, muss er zunächst vorhandene Raumkapazitäten ausschöpfen. Und Raum gibt es an der Hunsrückschule – theoretisch.

„Rechnerisch ließe sich das Problem einfach lösen“, sagt Beckers. Er überlegt: „Sicher, man muss schauen, ob man da nicht eine funktionierende Schule beschädigt – aufgrund einer Bedarfsprognose, die in einigen Jahren vielleicht auch wieder anders aussieht.“ Den Vorschlag der Eltern, die E.-O.-Plauen-Grundschule im Wrangelkiez zu reaktivieren – wegen mangelnder Nachfrage endet ihr Betrieb 2018 – statt die Hunsrück-Schule aufzufüllen, lehnt der Bezirk denn auch ab.

Wenn sich Über- und Unterkapazitäten in Beckers Bezirk derart verrechnen lassen, dass auf dem Papier alles ganz entspannt aussieht, hilft das den Eltern an der Hunsrück-Grundschule wenig: Aus ihrer Sicht sägt das Planungsinstrument Schulentwicklungsplan an der Attraktivität einer erfolgreichen Schule. Und Bezirksstadtrat Beckers muss Kapazitäten abbauen, die ihm in Zukunft vielleicht wieder fehlen.

Schnelle Containerlösung

Schaut man nach Lichtenberg, wird klar: Wenn erst einmal Mangel herrscht, ist die Not groß – trotz Ausbaumaßnahmen. Bis 2022 soll Lichtenberg 4,5 Grundschulzüge mehr bekommen, unter anderem durch schnell auf die Schulhöfe gezimmerte Container: sogenannte modulare Ergänzungsbauten.

Elternvertreterin Claudia Engelmann schüttelt den Kopf: Der Platz auf dem Schulhof sei doch jetzt schon knapp. „Wo sollen da noch Container hin?“ Zudem lösten die nicht das Problem, „dass die Turnhalle und die Mensa die Schülerzahlen gar nicht mehr aufnehmen können“. Engelmann hat ausgerechnet, dass die Küche bei 750 Schülern um 9 Uhr mit der Essensausgabe beginnen müsste, wenn alle satt werden sollen. Der Senat, sagt sie, müsse angesichts der Bevölkerungsprognose langsam begreifen, „dass man um Neubau und die Reaktivierung von Schulbauten“ nicht herumkomme.

Tatsächlich waren in Berlin die Schülerzahlen lange rückläufig. Der alte Schulentwicklungsplan, der bis 2012 galt, beschränkte sich noch auf eine „Konsolidierung der vorhandenen Schulnetze“. Jetzt muss man wieder umschwenken – und die Kapazitäten erhöhen. Das fällt dem Senat offenbar nicht leicht: Schnelle Containerlösungen, Aufstockung der Schülerzahlen – all das klingt mehr nach verzweifeltem Reagieren als nach planvollem Agieren.

Dabei hatte sich der Mangel zumindest in Lichtenberg schon lange abgezeichnet. Schon 1994 hatte der schwarz-rote Senat beschlossen, die Flächen rund um die Rummelsburger Bucht, einen Seitenarm der Spree, städtebaulich zu entwickeln. Ein neues Quartier mit 5.400 geförderten Wohnungen, Gewerbe und öffentlicher Infrastruktur sollte entstehen. Doch der Boom blieb zunächst aus: Die Stadt zog sich aus dem Projekt Rummelsburger Bucht in den Jahren nach der Jahrtausendwende finanziell zurück und verkaufte die Flächen „eigentumsorientiert“.

Auf der Lichtenberger Seite siedelten nun Baugruppen und errichteten Reihenhäuser. Fast 3.500 Menschen leben heute an der Rummelsburger Bucht, darunter viele Familien mit Kindern. Allein: Eine neue Schule wurde hier nicht gebaut. „Aus der Erfahrung der 90er und frühen 2000er Jahre war ein Kinderreichtum, wie wir ihn heute erleben, nicht anzunehmen“, sagt Schulstadträtin Kerstin Beurich (SPD). Entsprechende Mittel seien bezirksseitig auch gar nicht vorhanden gewesen.

Kein Geld für den Neubau

Die Baugruppen sind zu klein, als dass die Stadt sie dazu verpflichten könnte, sich an den Kosten öffentlicher Infrastruktur zu beteiligen. Eigentlich wäre also der Bezirk zuständig – dieser muss die Versorgung mit Schulplätzen sicherstellen. Doch der Neubau einer dreizügigen Grundschule klassischer Bauart kostet nach Auskunft von Beurichs Büro rund 15 Millionen Euro. Das sprengt die Bezirkskasse: Pro Jahr sind hier für Neubauten aller Art fünf Millionen Euro eingeplant. Viel billiger ist die Containerlösung, die der Senat mit einem Sonderprogramm unterstützt. Die „modularen Ergänzungsbauten“ kosten jeweils nur 4,7 Millionen Euro.

An der Hunsrückschule soll es noch nicht mal Container geben: Es gibt ja – rein rechnerisch – noch Platz. Nun will das Kreuzberger Schulamt per Gutachten prüfen, ob das pädagogische Konzept der Schule trotz Vierzügigkeit aufrechterhalten werden könnte. Die Eltern sind ernüchtert – und wollen erst recht weitermachen: Protestaktionen planen, Öffentlichkeit schaffen.

In Lichtenberg will man den Elternprotest jetzt besser organisieren: In der kommenden Woche trifft sich zum ersten Mal die AG Grundschule Lichtenberg. „Wir wollen die jeweiligen Elternvertretungen besser vernetzen – und vor allem auch die nächsten Aktionen besprechen“, so Elternvertreterin Engelmann. Mitte Juni will sich der Bezirk erneut mit Elternvertretung und Schulleitung zusammensetzen. „Wir sind gespannt“, sagt Engelmann. Es klingt kämpferisch, aber wenig optimistisch.