: Hört da draußen noch wer zu?
FESTWOCHEN WIEN Ibsen in der Inszenierung von Simon Stone, Frank Castorf schreibt „Die Brüder Karamasow“ fürs Theater um
VON UWE MATTHEISS
Die Wiener Festwochen fragen in diesem Jahr oft nach den letzten Dingen. „Go down, Moses“ von Romeo Castellucci übersetzt sein biblisches Motiv in eine ausdrucksstarke zeitgenössische Passionsbildfolge und malt den stummen Hilferuf „Save Our Souls!“ in den verlassenen Kosmos. Einen Abend später nimmt sich der junge australische Theatermacher Simon Stone „John Gabriel Borkman“ vor, kann aber mit Ibsens protestantisch-individualistischem Schulddiskurs wenig anfangen. Am dritten Tage dieser Serie blickt Frank Castorf auf das vereinzelte Subjekt des Westens mit der wohligen Wärme christlich-orthodoxer Gemeinschaft. Die Abwesenheit Gottes ist im Theater gerade ziemlich anwesend.
Henrik Ibsen ließ seine verhärmten protestantischen Arbeitsethiker über den Zusammenhang von Schuld und Schulden nachdenken. Unter Norwegens tief stehender Sonne kommen sie dabei auf keinen erlösenden Zweig. 120 Jahre später mag das Schnee von gestern sein, so wie er bei der Aufführung von „John Gabriel Borkman“ im Akademietheater zwei Stunden lang auf die Bühne von Katrin Brack herunterrieselt. Aber nur, wenn man moderne Arbeitsteilung auch beim Thema Verantwortung akzeptiert: schuld sind die anderen, die Gesellschaft, dumm gelaufen eben.
Borkman, Ibsens Banker von 1896, war noch nicht systemrelevant, als er die Gier guter Bürger ausnutzte und ihr Erspartes in einem spekulativen Investment verzockte. So sitzt er (Martin Wuttke) noch Jahre nach der Haft im Schuldturm seines eigenen Hauses gefangen, während Ehefrau Gunhild (Birgit Minichmayr) im Parterre darunter mit explodierenden Locken alle Erinnyen zugleich gibt.
Wieder groß rauskommen
In der Höhle seines Wahns kratzt der Schrat gewordene Borkman Züge des Übermenschen an die unsichtbaren Wände. Noch mal groß herauskommen und es allen zeigen. Das kann heutzutage jeder, wenn auch nur für die Warhol’sche Viertelstunde. Vor der Wahl zwischen der Ewigkeit und fünfzehn Minuten entscheidet sich Simon Stone, der als Regisseur auf vielen Festivals von Oberhausen bis Wien schwer gefragt ist, für die kürzere Variante.
Ibsen trifft Modern Family. Frau Gunhild skypt nur noch mit der Therapeutin, weil sie die Katzenhaare in deren Praxis nicht verträgt. Der blasse Junior (Max Rothbart) zieht mit der aparten Scheidungswitwe aus der Nachbarschaft (Nicola Kirsch) ganz beiläufig davon. Die Schwestern Gunhild und Ella (Caroline Peters) züngeln als mondäne Schlangen in Klimt-Umhängen (Kostüme Tabea Braun) durch den Schnee. So viel Jahrhundertwende durfte immerhin sein.
Die bittere Komödie verrät sich als Affirmation schlechter Wirklichkeit. Sie darf belacht, immer schon gewusst, aber nicht erkannt werden. Schlau sein, marktförmig sein, nach allen Rückschlägen vom Leben immer noch gecastet werden können, das sind die Imperative, darum geht’s. Noch der tote Borkman spreizt die Finger zum siegreichen „V“.
Wo Beschleunigung Einverständnis bedeutet, muss man die Gestirne anhalten. So begab sich eine erste Kohorte des Wiener Publikums zu Frank Castorfs 7-Stunden-Exerzitien an den Stadtrand. Hier an einer Puffmeile zwischen urbanem Gewerbegürtel und den teuren südlichen Vororten liegt die zur immobilen Aufwertung anstehende ehemalige städtische Sargfabrik. Kunst darf sie schon mal warmwohnen. Verwitterte Ziegelmauern, blättriger Verputz, Hallen, Gänge und Innenhöfe mit bröckelnden Belägen bilden den guten Grund für eine Theaterfilmstadt des Bühnenbildners Bert Neumann.
Mit den „Brüdern Karamasow“ verwandelt Castorf wieder einen Dostojewski-Roman – den letzten und gewichtigsten – zum Fest der Selbstverausgabung des Theaters, das die Zeit dehnt, den Raum sprengt und die Physis der Beteiligten an ihre Grenzen trägt. Wieder ein wüstes Austreibungsritual der Kunst gegen den allseitigen liberalen Konsens, der im global agierenden Kapitalismus und der entpolitisierten Demokratie schon am Ende der Geschichte angekommen sein will.
Am Karamasow-Krimi interessiert Castorf die Sehnsucht nach dem Anderen, nach dem, was Menschen in der Tretmühle der Selbsterhaltung zur Religion treibt. Er stellt das christlich-orthodoxe Gemeinschaftsverständnis gegen das Denken der Differenz und die Ökonomisierung aller Lebensvollzüge im Westen. Die Lust an der Aufgabe des Subjekts liefert den Einwand gegen bürgerliche Subjektivität. Als These mehr als frivol, öffnet das dem Theater einen unvergleichlichen Erfahrungsraum, in dem ausufernde Monologe existenzieller Verzweiflung am falschen Leben erklingen. Im Bewusstsein der Dostojewski-Menschen ist alles, was an der Welt verkehrt ist, nur als eigene Zerrissenheit und Gottesferne erfahrbar. Sie schreien, anders als Ibsens Schuldvermeidungsstrategen, lieber noch ein paar Sünden mehr in den Kosmos hinaus, vielleicht hört ja da draußen doch wer zu.
Ein Vater (Hendrik Arnst), drei Söhne, drei weltanschauliche Konzepte. Dmitri (Marc Hosemann) opfert sich für eine Tat, die er nicht getan hat, Iwan (Alexexander Scheer) verzweifelt an einer Tat, die er inspiriert haben will. Kirchenmann Aljoscha (Daniel Zillmann) verbreitet Güte und führt doch als junger Proto-Stalin ein Fähnlein von Kindern in die totalitäre Zukunft. Gemordet hat ganz unphilosophisch der vierte (Sophie Rois) zum leeren Triumph der unverstandenen Kreatur.
Der Castorf/Neumann-Kosmos wirkt karger als sonst, beinahe so leer wie Gagarins Himmel, nur ein schwarzes Holzhäuschen, schmucklose Kammern, Nippes, Courtney Love in körnigem Schwarz-Weiß, Stalin im Priesterseminar. Das Spiel der SchauspielerInnen ist spröder als sonst. In der beinahe gleichförmigen physischen Verausgabung reflektiert das Theater das religiöse Bilderverbot: Du sollst dir kein (spekulatives) Bildnis machen (vom Schein der Individualität).
Das posthumanistische Moment setzt sich fort. Erster Zuschauer ist die Handkamera. Ihr Bild erweitert das Theater immer konsequenter zu einer Art Simultanarchäologie, die den zukünftigen Blick – oder doch die Perspektive eines Gottes – auf die Gegenwart imaginiert.