piwik no script img

Archiv-Artikel

Polen wird kein nächstes Ungarn

Der neue Präsident ist nationalkonservativ, aber er könnte Polen weiter europäisieren

Adam Krzeminski

■ ist seit 1973 Redakteur des polnischen politischen Wochenmagazins Polityka und gilt in Polen als einer der herausragenden Kenner Deutschlands. Immer wieder setzt er sich mit dem Verhältnis zwischen Polen und Deutschland auseinander. Sein Essay „Polen im 20. Jahrhundert“ (Verlag C. H. Beck) ist heute ein Klassiker.

Der Schock in Warschau nach der Wahlniederlage des amtierenden Staatspräsidenten wirkt nach. Monatelang rangierte Bronis³aw Komorowski ganz oben auf der Beliebtheitsskala, um nach einem lahmen Wahlkampf gegen einen – wie es hieß – Nobody doch noch zu verlieren. Seinen Herausforderer, den glatten nationalkonservativen Europaabgeordneten Andrzej Duda, kannte noch im Frühjahr so gut wie niemand in Polen. Seinen Sieg verdankt er so auch vor allem dem logistisch konzentrierten Wahlkampf seiner Partei Recht und Gerechtigkeit bei gleichzeitiger Abstinenz ihrer schlimmsten Einpeitscher. Die polarisieren seit zehn Jahren die polnische Öffentlichkeit und denunzierten bislang ihre Gegner als korrupte Handlanger der dunklen Mächte im In- und Ausland. Dem früheren Ministerpräsidenten und jetzigen „EU-Präsidenten“ Donald Tusk unterstellten sie sogar eine Komplizenschaft bei der Flugzeugkatastrophe 2010 in Smolensk. Der damalige Staatspräsident Lech KaczyÒski und seine gesamte Begleitung kamen hier ums Leben kam. Doch Dudas Wahlkampf lief anders.

Er trat jung, zuversichtlich und bescheiden auf gegen einen abgehoben-altväterlich wirkenden Amtsinhaber, der von einem außenpolitischen Termin zum nächsten eilte, eine Teilnahme an der TV-Kandidatenrunde ausschlug und das Ganze spielend im ersten Wahlgang für sich entscheiden zu können glaubte. Selbst als er den verloren hatte, aber die anschließenden beiden Fernsehduelle gewann, dachten die meisten, er werde sich schon irgendwie durchhangeln und trotzdem gewinnen. Komorowski ist ein lahmer Präsidentschaftskandidat, aber ein guter Präsident, so hieß es überall in Warschau. Und tatsächlich ist seine Niederlage weniger den Qualitäten des Siegers als einem offenen Aufruhr der Jugend geschuldet, die sich nach einen „Wechsel der Gesichter“ in der polnischen Politik sehnt.

Es sind nämlich 25 Jahre seit der Revolution des Jahres 1989 vergangen, etwa so viel wie in der Bonner Republik zwischen der „Stunde null“ und der Jugendrevolte der „68er“. Die polnische Revolte 2015 ist weniger theorielastig, auch wenn Pikettys „Kapital“ sich in den angesagten Buchhandlungen stapelt, und kaum im Kommune-1-, geschweige denn Baader-Meinhof-Stil bewegt. Stattdessen gaben aus dem Stand 20 Prozent der eben vornehmlich jungen Wähler einem Rocksänger, Exalkoholiker und Hater ihre Stimmen. Es galt, dem Establishment die Gelbe Karte zu zeigen.

Polen mag zwar ein beneidenswertes Wirtschaftswachstum haben, aber das übersetzt sich nicht in Wohlstand für alle. Die mehr als hunderttausend Kinder, die bei Großeltern oder Nachbarn aufwachsen, weil die Eltern im Ausland Geld verdienen müssen, oder die jungen Leute, die im Land keine Perspektive sehen, wollen nicht länger einfach übergangen werden. Dass es Spaniern oder Iren nicht besser geht, ist dabei kein Trost. Die PO setzt auf ihre Erfolgsstory, aber die klingt in den Ohren dieser Jüngeren eben nur selbstgefällig, wenn nicht sogar zynisch.

Und zwei Drittel der Protestwähler- und -wählerinnen entschieden sich auch beim zweiten Wahlgang für den Kandidaten der KaczyÒski-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Er ist aber nur bedingt ihr Hoffnungsträger, nicht vergleichbar mit Willy Brandt für die deutschen „68er“ oder Viktor Orban für die ungarischen Nationalbewegten. Es gibt auch keine das Land bis zur Selbstzerfleischung zerreißende existenziellen Fragen wie damals die neue Ostpolitik in der Bundesrepublik oder die nationale Selbstfindung im wirtschaftlich gebeutelten Ungarn 2010.

Polen ist ein historisch und mental, nicht wirtschaftlich oder sozialpolitisch tief gespaltenes Land. Die statistischen Daten ergeben keinen gravierenden Unterschied zwischen der „Ostwand“, wo die PiS ihre Hausmacht hat, und der „Westwand“, die die derzeit regierende Bürgerplattform (PO) und die dahinschmelzenden Sozialdemokraten von der SLD seit Jahren majorisieren. Die Grenzlinie zwischen den beiden Lagern – dem nationalkonservativen und dem liberalkonservativen – deckt sich seit fast zwei Jahrzehnten mehr oder weniger mit der Grenze des Wiener Kongresses von 1815. Das russische und österreichische Teilungsgebiet Polens – mit Ausnahme der Großstädte wie Warschau oder Krakau – wählt die euroskeptische PiS.

Das preußische und die in Potsdam 1945 „wiedergewonnenen“ Gebiete sind dagegen bei vergleichbarem Lebensstandard liberaler und europafreundlicher. Dudas Sieg fiel nicht so überragend aus, dass er diese mentale Spaltung im Land hätte erschüttert können.

Der Freudentaumel der Nationalkonservativen in der Wahlnacht jagte trotzdem manchen Linksliberalen wie Adam Michnik Angst ein: Polen könne auf dem „Weg zur Diktatur à la Orban“ abrutschen. Auch die Gespenster der Doppelherrschaft der Brüder KaczyÒski in den Jahren 2005 bis 2007 wurden beschworen. Doch Vorsicht mit Analogien aus der Vergangenheit. Duda ist keine Neuauflage der komplexbeladenen Provinzler, die keine Fremdsprache konnten und ihre Verunsicherung auf dem internationalen Parkett mit dem Eigenlob überspielten, sie seien stolz darauf, noch nie im Ausland gewesen zu sein und dort auch kein Bankkonto zu besitzen. Der 42-jährige Duda ist etwa 25 Jahre jünger als sein Gönner Jaroslaw KaczyÒski, mit einer Germanistin verheiratet und als Europaabgeordneter wohl kein nationaler Autist. Die Verdächtigung, Kacynski ziehe hinter ihm die Fäden, wehrte seine Frau öffentlich und elegant ab: Seine Familie und sonst niemand stehe hinter ihm.

Innenpolitisch verteilte Duda im Wahlkampf Wahlgeschenke, die das Land finanziell ruinieren würden. Außenpolitisch blieb er schwammig. Er griff zwar nicht die Lieblingsformel der PiS auf, Polen sei unter Tusk zum „deutsch-russischen Kondominium“ geworden, wiederholte aber stets, es werde sich „außerhalb des Mainstreams der EU“ profilieren, ohne zu erklären, was er damit meint. Da er auch mit Putin sprechen möchte, wurde sein Sieg in Russland als Schlappe für die Ukraine gedeutet. Und die Verschiebung seines Treffens mit Petro Poroschenko nach der Wahl schien das zu bestätigen. Doch das ist alles Kaffeesatzleserei. Jeder Neuling eiert.

Nach Dudas Sieg geht Polen nun in einen heftigen Wahlkampf vor den Parlamentswahlen im Herbst. Das Regierungslager ist nach zwei Amtsperioden – eine in Polen beispiellose Leistung – ausgelaugt. Komorowski galt neben Tusk als einer seiner Stützpfeiler. Jetzt ist er eingebrochen. Tusk sitzt in Brüssel. Ewa Kopacz besitzt alle Qualitäten einer soliden Regierungschefin, vermochte sich aber als Wahlkämpferin nicht zu profilieren. Der amtierende Außenminister Grzegorz Schetyna ist vor allem ein versierter Innenpolitiker. Radoslaw Sikorski – der im März 2014 zusammen mit Frank-Walter Steinmeier und Laurent Fabius in Kiew mithalf, das Blutvergießen zu stoppen – ist von der PO an die innenpolitische Front geschickt worden. Wird Polen also für längere Zeit außenpolitisch tatsächlich unberechenbar werden, und das angesichts der Krisen in der Ukraine, Griechenland, des Euro und von Lampedusa?

Es wird sicher seine Zeit brauchen, bis sich die neue innenpolitische Konstellation einpendelt. Aber es dürfte weder eine Wiederholung der Jahre 2005 bis 2007 noch eine „Orbanisierung“ Polens geben. Andrzej Duda könnte sogar für eine Europäisierung der polnischen Nationalkonservativen sorgen und nicht für einen nationalistischen Schub in Polen stehen sowie den mentalen Graben zwischen Polens „Ost-“ und „Westwand“ eher verkleinern als vertiefen.

Das liegt auch daran – und das ist der grundsätzliche Unterschied zu Ungarn –, dass die Polen sich des europäischen Eigengewichtes ihres Landes bewusst sind, ohne es jedoch genau zu verstehen. Die großen Nachbarn sind da auch nicht immer hilfreich.

Denn zur Demontage Bronis³aw Komorowskis haben ungewollt leider auch Paris und Berlin beigetragen. Am 70. Jahrestag des D-Day wurde das „Weimarer Format“ (Deutschland/Polen/Frankreich) in den Vermittlungsgesprächen der EU-Mitgliedstaaten zwischen der Ukraine und Russland sang- und klanglos vom „Normandie-Format“ – abgelöst. Polen flog einfach raus. Und das, obwohl Bronis³aw Komorowski ebenso wie Angela Merkel, Petro Poroschenko und Wladimir Putin bei den Feierlichkeiten zur Landung der Alliierten zugegen war.

Hier geht es nicht um Komorowski oder Duda, sondern um das europäische Gewicht eines Landes, das 1918 nach über hundertjähriger Abwesenheit die europäische Bühne wieder betreten hat, sich im Zweiten Weltkrieg behauptete und spätestens seit 1980 die ostmitteleuropäische Geschichte maßgeblich mitprägt. Insofern sind sowohl der neue Staatspräsident als auch seine Partner in der EU gut beraten, für dieses Polen – mit seinen Leistungen wie auch Versäumnissen – einen Platz als einer der Spielmacher im Zentrum und nicht am Rande des europäischen Geschehens bereitzuhalten.