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Archiv-Artikel

WIR : HIER

29. Kapitel

Laura hatte das Gefühl, die Eltern waren nicht nur sehr beschäftigt, sondern auch erstaunlich froh, nicht Familie im Urlaub spielen zu müssen

Seit der letzten Probe hatte Goldstück geredet und geredet, über den Senatswettbewerb, das Tunnel-Kästchen und über die Gruppe. Was sie verband, war zwar längst viel mehr als die Band, aber – das wurde ihnen immer klarer – Musik war ihre Grundlage. Und um die wollten sie sich jetzt kümmern, alles andere: keine Ahnung. Alle vier hatten nur immer noch richtig Bock, miteinander zu spielen. Erleichterung war gar kein Ausdruck. Es war egal, was mit dem Kästchen passiert, und noch egaler war ihnen der Senatswettbewerb.

Stattdessen hatten Szusza eine ganz neue Idee. Ihr ging Lauras Geschichte von dem abgeschlossenen zweiten U-Bahnhof unter dem Innsbrucker Platz nicht mehr aus dem Kopf. Goldstück müsste da unten auftreten. Ein Konzert, zu dem sie die Schule und alle Freunde einladen würden und dessen Erlös an Familie Demir gehen sollte. Cems Mutter hatte einen Kredit bekommen, in etwa zwei Wochen wären die ganzen bürokratischen Hürden in der Türkei genommen und einer Entlassung seines Vaters stünde dann nichts mehr im Weg. Aber dieser Kredit war nicht von einer Bank, die hatten alle abgelehnt. Zu wenig Sicherheiten, und da ein Mann im türkischen Knast kein Sofa oder neues Auto war, das sie mit dem Kredit finanzieren wollte, hatte sie keine Chance. Cems Mutter fand einen privaten Geldverleiher, der bereit war, ihr 6.000 Euro zu leihen. In sechs Wochen müsste sie 6.500 Euro zurückzahlen, Risikozuschlag inklusive.

„Und wenn sie das nicht schafft?“

Cem zuckte mit den Schultern. „Das ist unmöglich. Sie muss.“

Trotzdem musste er kurz überlegen, ob so ein Konzert gegen die Ehre gehen würde, aber da Musik machen als ehrliches Handwerk galt, würde das wohl klargehen. Sie waren Feuer und Flamme, so wohl hatte Goldstück sich schon lange nicht mehr miteinander gefühlt.

„Wir machen jetzt unser Ding, Scheiß auf alle Einwände!“

Die Woche Herbstferien wollten sie dazu nutzen, Verbündete zu suchen, Erwachsene, die ihnen helfen werden, die entsprechenden Behörden und die BVG zu Ausnahmegenehmigungen zu überreden. Das fiel eindeutig in Lauras Kompetenz.

Eine Druckerei zu finden, die Plakate umsonst oder billig drucken würde, übernahm Cem. In allen Netzwerken um Unterstützung zu werben, Szusza, und um einen Info-Tisch für die Schule kümmerte sich Matteo.

Laura und Matteo mussten also unbedingt in den Ferien hier bleiben, sie hatten mehr als genug zu tun. Das Konzert sollte in genau drei Wochen stattfinden, wenig Zeit, um alles zu organisieren.

Lauras Eltern waren fast erleichtert, als sie sagte, sie hätte keine Lust und keine Zeit, mit ihnen die Ferien zu verbringen. Ihre Mutter hatte Ärger im Büro, sie erzählte keine Einzelheiten, aber ließ durchblicken, dass es um unbezahlte Rechnungen und mindestens ihre Existenz ging. Jetzt sparten sie Geld für eine Reise, auf die niemand Wert legte, und alle drei waren sich merkwürdig schnell einig. Laura hatte das Gefühl, die Eltern waren nicht nur sehr beschäftigt, sondern auch erstaunlich froh, nicht Familie im Urlaub spielen zu müssen. Ihr Vater und ihre Mutter, das fiel ihr auf einmal auf, gingen sich eigentlich schon seit Monaten nach Möglichkeit aus dem Weg. Ihr gegenüber taten sie zwar, als sei alles wie immer, aber sie waren ziemlich schlechte Schauspieler. Ob sie heimlich längst über Trennung sprachen? Laura war es egal, das war eindeutig nicht ihr Problem.

Jetzt fehlte nur noch die Erlaubnis, dass auch Matteo hier bleiben dürfte. Es fiel ihm nicht leicht, auf den versprochenen Tauchkurs zu verzichten, aber das Konzert war wichtiger. Er diskutierte seit dem Abendessen mit seiner Mutter am Küchentisch. Langsam begriff sie, dass er es ernst meinte und nicht mit ihr und Katja in die Ferien fahren würde. Sie goss sich ein drittes Glas Wein ein.

„Matti, ich verstehe dich ja, aber das ist vielleicht unser letzter gemeinsamer Urlaub. Nächstes Jahr wirst du 18 und dann hast du bestimmt keine Lust mehr, mit deiner Mutter zu verreisen. Oder geht es doch um Katja? Dann fahren eben nur du und ich.“

„Ach, Mama, klar fahren wir noch mal zusammen weg, aber nicht in den Herbstferien. Und nein, es ist nicht wegen Katja und dir. Ich hab das verstanden, na ja, oder ich kann es wenigstens hinnehmen, du bist erwachsen, und wenn du dich wirklich in Katja verknallt hast, geht mich das nichts an. Aber wenn ich dich wie eine Erwachsene behandeln soll, dann erwarte ich das auch umgekehrt.“

Seine Mutter stand auf und wuschelte ihm durch den Kopf, bevor sie anfing, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. „Aber du machst keinen Quatsch, wenn du sturmfrei hast. Das musst du mir versprechen.“

„Mama! Ist doch klar, ich hab gar keine Zeit, Quatsch zu machen.“

„Na dann kann ich wohl nichts mehr dagegen sagen.“ Er ging auf seine Mutter zu und umarmte sie. „Danke! Und zum Konzert bringst du Katja mit, okay? Aber ohne Küssen.“

Noch im Flur nahm er sein Handy und schrieb den anderen: „Strike!“

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen 2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de