: Eine Frage des Gewissens
EINSPRUCH Der Widerstand eines Staatsanwalts gegen die Weisung von Generalstaatsanwalt Lutzvon Selle ist für Justizsenator Steffen heikel: Der von ihm ernannte gilt als autoritär
■ Jeder Beamte hat das Recht, gegen eine Weisung seines Vorgesetzten Einwende zu erheben, wenn er sie für unrechtmäßig hält – dieser Vorgang heißt im Beamtenrecht Remonstration.
■ Die Remonstration erfolgt gegenüber dem unmittelbaren Vorgesetzten, sollte dieser die Anweisung bestätigen und die Bedenken der Beamten anhalten, muss er sich an den nächsthöheren Vorgesetzten wenden.
■ Zu einem gewissen Grad schützt die Remonstration auch Beamte: diese wenden damit mögliche Regressansprüche ab, wenn sich die Weisung später als rechtswidrig erweisen sollte.
■ Als außerordentlich selten gelten Remonstrationen, erklärt wird dies mit der Furcht, sich beim Vorgesetzten unbeliebt zu machen.
VON FRIEDERIKE GRÄFF
Noch ist unklar, wie lange es dauert, bis Justizsenator Till Steffen (Grüne) über die Remonstration eines Hamburger Staatsanwaltes entschieden hat.
Den Begriff kennen die wenigsten, kein Wunder, schließlich ist der Vorgang äußerst ungewöhnlich: damit erhebt ein Beamter Einwände gegen die Weisung seines Vorgesetzten, wenn sie ihm rechtswidrig erscheint. Eben dies ist der Fall bei dem Staatsanwalt, den sein Vorgesetzter, der Generalstaatsanwalt Lutz von Selle, angewiesen hat, Anklage gegen den Linken-Politiker Gregor Gysi wegen falscher eidesstattlicher Versicherung zu erheben.
Gysi hatte 2011 versichert, der Stasi nicht über Mandaten berichtet zu haben. Als später ein Aktenvermerk der Stasi bekannt wurde, der dies in Zweifel zog, erstatteten drei Personen Anzeige gegen Gysi. Für eine Anklage sah jedoch der Staatsanwalt nach umfangreichen Ermittlungen zu wenig Anhaltspunkte – und remonstrierte, wie Süddeutsche Zeitung und NDR in der letzten Woche berichteten.
Das ist außerordentlich selten, laut Sprecherin der Justizbehörde kann sich im Haus niemand an einen vergleichbaren Fall erinnern. Weder die Behörde noch die Staatsanwaltschaft wollen sich zu dem Fall äußern, letztere spricht von einer „internen Angelegenheit“.
Sicher ist bereits jetzt, dass die interne Angelegenheit Unstimmigkeiten innerhalb der Hamburger Staatsanwaltschaft nach außen trägt. Generalstaatsanwalt Lutz von Selle, den Till Steffen 2009 ernannt hat, gilt als autoritärer Chef. Der nun remonstrierende Staatsanwalt hatte bei seiner Entscheidung, das Verfahren gegen Gregor Gysi einzustellen, Rückendeckung aus dem Haus: laut einem Bericht des Abendblatts teilte der Leiter der Staatsanwaltschaft, Ewald Brandt, seine Einstellung.
Lutz von Selle ist in der Vergangenheit immer wieder mit restriktiven Entscheidungen und einem Hang zu Kompetenzüberschreitungen aufgefallen. Als Amtsrichter verurteilte er 1993 einen Hausbesetzer, der von einer „Menschenjagd“ der Polizei gesprochen hatte, wegen Beleidigung – obwohl selbst die Staatsanwaltschaft auf Freispruch plädierte.
Von Selles Gastspiel als Leiter der Justizanstalt Vierlande dauerte nicht einmal ein Jahr: Er überwarf sich mit dem damaligen Justizsenator Klaus Hardraht (CDU) wegen seiner restriktiven Drogenpolitik in der Anstalt. Zuletzt eckte von Selle an, als er 2014 die Ermittlungen wegen eines angeblichen Angriffs von Linksautonomen auf die Davidwache an sich ziehen wollte. Das scheiterte jedoch am Widerstand von Innen, Justizbehörde und Polizei.
Für den frisch im Amt befindlichen Justizsenator Steffen ist die Causa von Selle eher heikel: In einem Interview mit dem Abendblatt hatte er sich vor knapp vier Wochen hinter dessen Kurs gestellt, Gerichtsverfahren durchzuziehen, statt sie wegen Geringfügigkeit einzustellen.
Zugleich hat er in der Vergangenheit gemeinsam mit seiner Partei immer wieder eine politisch unabhängige Justiz gefordert – nun muss er als oberster Dienstherr über eine Anklageerhebung entscheiden.