: Als die Nouvelle Vague noch nicht erfunden war
CROISETTE Das Festival von Cannes überraschte in diesem Jahr mit einer wenig treffsicheren Jury und so manchen Untiefen im Programm des Wettbewerbs. Umso erfreulicher, dass die französische Regisseurin Agnès Varda für ihr Lebenswerk geehrt wurde
■ Goldene Palme: „Dheepan“ von Jacques Audiard (Frankreich)
■ Großer Preis der Jury: „Saul fia“ von László Nemes (Ungarn)
■ Preis der Jury: „The Lobster“ von Yorgos Lanthimos (Griechenland u. a.)
■ Beste Schauspielerin: zu gleichen Teilen an Rooney Mara in „Carol“ von Todd Haynes (Großbritannien/USA) und Emmanuelle Bercot in „Mon roi“ von Maïwenn (Frankreich)
■ Bester Schauspieler: Vincent Lindon in „La loi du marché“ von Stéphane Brizé (Frankreich)
■ Beste Regie: Hou Hsiao-Hsien für „Nie Yinniang“ (Taiwan)
■ Bestes Drehbuch: Michel Franco für „Chronic“ (Mexiko)
■ Goldene Palme für den besten Kurzfilm: „Waves ’98“ von Ely Dagher (Libanon)
■ Goldene Palme für das Lebenswerk: Agnès Varda (Frankreich)
■ Goldene Kamera: „La tierra y la sombra“ von César Augusto Acevedo (Kolumbien)
VON CRISTINA NORD
Mit einer Überraschung gingen die 68. Filmfestspiele von Cannes zu Ende. Die Goldene Palme erhielt am Sonntagabend „Dheepan“ von Jacques Audiard, ein Film, der nicht als Favorit galt. Der französische Regisseur erzählt von drei Menschen aus Sri Lanka, die sich als Familie ausgeben, damit sie die Insel verlassen und in Europa Asyl beantragen können. Einer von ihnen, Dheepan (Jesuthasan Antonythasan), ist Kämpfer der Tamil Tigers. In den ersten Szenen sieht man, wie Leichen verbrannt werden und er neben dem Feuer steht, einmal hält die Kamera auf einen Schädel, in dem Flammen lodern; später erfährt man, dass Regierungstruppen Dheepans Einheit und Familie getötet haben.
Auch die anderen beiden Figuren, Yalini (Kalieaswari Srinivasan) und Illayaal (Claudine Vinasithamby), hält die Erinnerung an den Bürgerkrieg im Würgegriff. Die drei landen in einer Cité am Rand von Paris, in einer üblen Gegend, Drogengangs beherrschen sie. Dheepan wird Hausmeister, Yalini kocht für einen älteren, auf Hilfe angewiesenen Mann, Illayaal geht in die Schule, für Augenblicke wird aus den vorgetäuschten Familienbanden echte Zuneigung, dann wieder verzweifelt jeder der drei an der Zwangsgemeinschaft.
Flüchtlinge als Krieger
An mehreren Abzweigungen verlässt Audiard die Pfade des Sozialrealismus, indem er zum Beispiel eine Einstellung in den Bilderfluss hineinmontiert, die den Kopf eines alten Elefanten im nächtlichen Wald zeigt, oder indem er impressionistische Spiele mit Lichtflächen und -punkten vor schwarzem Hintergrund treibt. Außerdem gibt er der Kriegserfahrung der männlichen Hauptfigur einigen Raum, was in einer Sequenz gipfelt, in der Dheepan Amok läuft.
Audiard, der zuletzt „Der Geschmack von Rost und Knochen“ (2012) drehte, versucht hier ohne Zweifel etwas Interessantes: Je mehr er den Protagonisten als Krieger anlegt, umso weiter ragt ins Flüchtlingsdrama der Genrefilm. Der Asylbewerber erscheint bei Audiard nicht als auf Hilfe und Almosen angewiesene Figur, sondern als jemand, der, so es darauf ankommt, viel Handlungsmacht hat. Trotzdem hinterlässt der Film viele Zweifel, zunächst einmal, weil der Regisseur kein Meister der dichten Beschreibung ist; über den Alltag der drei Flüchtlinge erfährt man nichts, was man sich nicht ohnehin schon hätte denken können.
Zudem wirft der Film die Frage auf, wie das Kino auf Leute blickt, die am Rand der Gesellschaft existieren, ohne dass er eine befriedigende Antwort darauf fände. Zumal es nicht viel bösen Willen braucht, um in „Dheepan“ eine Angstfantasie zu erkennen. Dort draußen in der Cité, da herrschen die Kriminellen, da schaffen die Söhne und Enkel der Einwanderer aus Nordafrika eine gesetzlose Zone, und wenn diese dann auch noch von einem Flüchtling mit im Dschungelkampf erworbenen Fertigkeiten erobert wird, dann Gnade uns der gallische Hahn.
In seinem Mangel an Treffsicherheit passt das Juryvotum gut zu einem Festival, das viele Untiefen barg. Das diesjährige Wettbewerbsprogramm war voller Enttäuschungen, angefangen bei „Mon roi“ von der französischen Regisseurin Maïwenn; eine Frau ohne Selbstbewusstsein, gespielt von Emmanuelle Bercot, verfällt darin einem Mann mit aufgeplustertem Selbstbewusstsein (Vincent Cassel), und es dauert fünf Minuten, bis man merkt, dass die Erforschung der heterosexuellen Liebe, der sich das französische Kino oft und bisweilen mit großer Virtuosität widmet, hier kolossal nervt.
Gus Van Sant verirrt sich mit seinem Film „Sea of Trees“ in einem Wald, in dem die Plattitüden wuchern, Denis Villeneuve findet im Thriller „Sicario“ nichts dabei, die DEA mit einem Abgesandten des Medellín-Kartells kooperieren zu lassen, weil der die mexikanischen Drogenbosse in Schach hält, frei nach dem Motto: „Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn.“
Problematisch ist auch „Saul fia“ („Son of Saul“), das Debüt des ungarischen Regisseurs László Nemes, das mit dem Großen Preis der Jury belohnt wurde. Der Spielfilm, im Sommer 1944 in Auschwitz-Birkenau angesiedelt, schaltet sich in die Diskussion um die Darstellbarkeit der Schoah ein, indem er die Kamera um den Protagonisten herumwirbeln lässt und die Abläufe der Vernichtung an den Bildrand oder in die Unschärfe verbannt. Man könnte sich auf dieses Verfahren einlassen, erführe man etwas über das Vernichtungslager, was man noch nicht wusste. Das ist nicht der Fall, weshalb „Saul fia“ etwas Spekulatives anhaftet, und das löst vor dem Hintergrund der historischen Wirklichkeit von Auschwitz-Birkenau Beklemmung aus.
Zum Glück wandte sich die Jury, der die Brüder Joel und Ethan Coen vorsaßen, nicht vollständig von den gelungenen Wettbewerbsfilmen ab. Der Preis für die beste Regie ging an den taiwanesischen Filmemacher Hou Hsiao-Hsien, dessen period piece „Nie Yinniang“ („The Assassin“) von einer Schönheit ist, die einem den Atem verschlägt; man hätte Hou aus vollem Herzen die Goldene Palme gewünscht. Den Preis der Jury erhielt der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos für seine verspielt-dystopische Zukunftsfantasie „The Lobster“, und auch Todd Haynes’ elegantes Drama „Carol“ ging nicht ganz leer aus, da Rooney Mara den Preis für die beste Darstellerin entgegennahm (ex aequo mit Emmanuelle Bercot, die in „Mon roi“ ausdauernd heult, schluchzt, tobt oder ein Gesicht zieht).
Der holprige Wettbewerb sollte zudem nicht vergessen lassen, wie viele besondere Filme man in diesem Jahr in Cannes sehen konnte, sobald man die Nebenreihen besuchte, vor allem die Quinzaine des réalisateurs. Miguel Gomes’ dreiteilige, mehr als sechs Stunden dauernde freie Adaption der „Geschichten aus tausendundeiner Nacht“, „As mil e uma noites“, ragt nicht zuletzt deshalb hervor, weil ihr eine überzeugende Antwort auf die Frage gelingt, die auch bei Audiard anklingt. Gomes’ Streifzüge durch das von den Sparmaßnahmen versehrte Portugal führen zu Arbeitslosen, Vorstadtbewohnern, Rentnern und frisch entlassenen Werftarbeitern; diese werden jedoch nie als Opfer von Umständen präsentiert, sondern stellen sich selbst als unermüdliche Produzenten von Geschichten, Fiktionen und elaborierten Zeitvertreiben dar. Die dichte Beschreibung von Lebensumständen gelingt Gomes spielerisch, unter anderem, weil er ein großes Interesse an proletarischen Vergnügungen hegt und dabei zutage fördert, wie reich an Raffinement und Eloquenz diese sein können.
Daneben bestachen zum Beispiel Apichatpong Weerasethakuls „Rak Ti Khon Kaen“ („Cemetery of Splendour“), Arnaud Desplechins „Trois souvernirs de ma jeunesse“ oder Ciro Guerras „El abrazo de la serpiente“ („Embrace of the Serpent“). Dass das neue rumänische Kino viel Kraft besitzt, bezeugten Radu Muntean mit „Un etaj mai jos“ („One Floor Below“) und Corneliu Poromboiu mit „Comoara“ („Treasure“), einer bitterbösen und herrlich verschleppten Komödie über die Dumpfheit postsozialistischer Träume. Und das, was „Mon roi“ so überhaupt nicht glücken wollte, die Auseinandersetzung mit den Abgründen der Liebe zwischen Männern und Frauen, gelang Philippe Garrels Schwarzweißfilm „L’ombre des femmes“ mit leichter Hand.
Am Samstag schließlich hatte man dann noch Gelegenheit, der umwerfenden Agnès Varda zuzuhören. In einer Suite im siebtenStock des Hotels Majestic-Barrière sprach der Filmkritiker Jean-Michel Frodon mit der 86 Jahre alten Filmemacherin, die am Sonntagabend eine Goldene Palme für ihr Lebenswerk erhielt. Der Rahmen der Veranstaltung war das Programm „Women in Motion“, das der neue Festivalsponsor, die Kering-Gruppe, lanciert hat. Varda erinnerte daran, wie es war, als die Nouvelle Vague noch nicht erfunden war und sie an ihrem ersten Filmprojekt, „La pointe courte“ (1955), arbeitete.
Wenn es in der Literatur James Joyce und John Dos Passos gibt, habe sie sich damals gedacht, warum findet sich dann nichts Vergleichbares im Kino? Ein Filmausschnitt aus „Uncle Yanko“ (1967), in dem eine Begrüßungsszene mehrmals wiederholt und variiert wird, untermauert, was Varda meint, und zeigt zugleich, wie selbstverständlich das Experimentelle, das Selbstreflexive, das Nichtnarrative damals zu dem gehörten, was man unter Kino verstand. Schade, dass diese Selbstverständlichkeit verloren gegangen ist.
Schade auch, dass Varda in die „Women in Motion“-Sparte abgeschoben wurde, statt eine Masterclass in der Salle Debussy zu geben, wie dies schon Regisseure wie Martin Scorsese oder Marco Bellocchio getan haben. Sie selbst berief sich am Samstagvormittag auf die Gefängnisbriefe des italienischen Philosophen Antonio Gramsci: Es gelte, ein Pessimist im Verstand und ein Optimist im Willen zu sein.