: Der unbekannte Synthesizer
Manche Musiker werden anscheinend gegen ihren Willen entdeckt. Charles Cohen ist so ein Fall. Der US-Amerikaner spielte bis vor einigen Jahren fast ausschließlich in seiner Stadt Philadelphia in Theater- und Free-Jazz-Kreisen. Oft dauerten seine Auftritte bloß 20 Minuten. Charles Cohen improvisiert dabei praktisch exklusiv auf einem Buchla Music Weasel Synthesizer. Und das seit den frühen siebziger Jahren.
Dass Cohen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, verdankt dieser dem Berliner Musiker Rabih Beaini. Der veröffentlichte Cohens Archivaufnahmen – viele davon zum ersten Mal – Ende 2013 auf seinem Label Morphine Records. Und im Frühjahr 2014 spielte Cohen beim Berliner Festival CTM eines der großartigsten Konzerte des Jahres. Improvisierte Synthesizermusik, konzentriert, durchdacht und auf elektrisierende Weise entspannt. Im Herbst kam Cohen gleich noch einmal nach Berlin, um ein neues Album aufzunehmen.
Die Musik auf „Brother I Prove You Wrong“ lässt ein bisschen von der CTM-Konzertstimmung erahnen. Cohens lässige, über 40 Jahre entwickelte Beherrschung seiner Mittel, die er auf der Bühne unter Beweis stellte, demonstriert er auch im Studio. Anders als man bei einem Free-Jazzer erwarten sollte, sucht er nicht die impulsive Expressivität, verzichtet auf übermäßige Dissonanz und laute Frequenzen, sondern schichtet Patterns, die sich wie beim Durchpausen einer Zeichnung übereinanderlegen und allmählich ihre Gestalt verändern. Es ist eine wohlproportionierte Schönheit, die deutlich macht, wie Cohen die Möglichkeiten des Synthesizers ganz eigenständig und fern von elektronischen Moden für sich neu erschlossen hat. Zum Glück dürfen das jetzt noch ein paar Menschen mehr mitbekommen.
Der australische Pianist und Wahlberliner Simon James Phillips hingegen ist öfter im Konzert zu hören, ebenso seine Mitstreiter auf dem Album „Blage 3“: Mit BJ Nilsen an der Elektronik, der Trompeterin Liz Allbee, dem Schlagzeuger Tony Buck, Werner Dafeldecker am Bass und dem Gitarristen Arthur Rother stellte er eine Gruppe von in Berlin ansässigen Improv-Größen zusammen, die fünf Stunden ohne Unterbrechung frei spielten. Knapp zwei Stunden dieser sehr ausgeschlafenen Studie in Zeit- und Raumerleben sind auf dem Album gelandet, eine längere Version gibt es als Download. Musik zur Versenkung – oder als unbewusster Stimulus.
TIM CASPAR BOEHME
■ Charles Cohen: „Brother I Prove You Wrong“ (Morphine Records)
■ Simon James Phillips: „Blage 3“ (Mikroton)