: Tücken der digitalen Projektion
CANNES CANNES 7 Jia Zhangkes Wettbewerbsbeitrag „Shan he gu ren“ („Mountains May Depart“)
Ein rätselhafter Fehler unterläuft dem Vorführer, als am Dienstagabend in der Salle Debussy Jia Zhangkes Wettbewerbsbeitrag „Shan he gu ren“ („Mountains May Depart“) gezeigt wird. Eine halbnahe Einstellung von einem älteren Paar, aufgenommen während eines Festes, friert ein, die dunkleren Flächen im Bild werden schwarz, die helleren rot, und zugleich läuft die Szene weiter, die Kamera schwenkt von dem Paar nach links, erfasst andere Gäste, Dialogsätze sind zu hören und werden in den Untertiteln übersetzt.
Das stehende rot-schwarze Bild und das, was im Schwenk sichtbar wird, koexistieren in einer Überblendung, die lange andauert. So lange, dass im Publikum erste Pfiffe ertönen, während ich noch überlege, ob es sich nicht um eine gewollte Störung des gewöhnlichen Bildflusses handelt. Das mag daran liegen, dass ich in diesem Festival schon mehrmals gesehen habe, wie wunderliche Effekte das Bild destabilisieren, etwa in Apichatpong Weerasethakuls „Cemetery of Splendour“. Darin findet sich eine Szene, in der sich die Rolltreppen im Foyer eines Multiplexkinos und der Schlafsaal eines Krankenhauses überlagern; es dauert ungewöhnlich lange, bis das zweite Bild, der Schlafsaal, sich ganz über das erste gelegt hat. Ein anderes Mal schaut die Kamera in den Himmel, und auf dieses Bild schiebt sich ein zweites, das vermutlich mikroskopischer Herkunft ist, so dass ein zigmal vergrößerter Einzeller neben einer Wolke schwebt.
Doppelter Hund
In Miguel Gomes’ „As mil e uma noites“ verschwinden Figuren aus dem Bild, indem sie sich in Luft auflösen, und einmal verdoppelt sich ein Hund namens Dixies, wobei Dixie Nr. 2 leicht durchscheinend bleibt, so als wäre er eine punktuelle Überblendung. Halbtransparent oder nicht, die beiden Dixies tollen fröhlich umeinander herum.
Bei Jia Zhangke dagegen sind das Einfrieren, die Rotfärbung und die Überblendung ein Artefakt, Exempel für die Tücken der digitalen Projektion. Möglicherweise liegt der Fehler daran, dass „Shan he gu ren“ drei unterschiedliche Formate hat (1:37 im ersten Teil, der 1999 spielt, 1:85 im zweiten Teil, der 2014 angesiedelt ist, und 2:35 im letzten Teil, der im Jahr 2025 spielt).
Formatwechsel sind manchmal schwierig zu bewerkstelligen. Interessant jedenfalls, dass ein DCP – also das Speichermedium für den Film – und der digitale Projektor auf eine Weise kooperieren, die dem menschlichen Willen eine Nase dreht. Sie bringen ihren eigenen Film hervor, einen, der mit dem Final Cut nicht übereinstimmt.
„Shan he gu ren“ begleitet mehrere Figuren, die aus der nordchinesischen Stadt Fenyang, dem Heimatort des Regisseurs, kommen, durch 26 Jahre ihres Lebens. Es gibt jede Menge tolle Momente, gleich am Anfang betört eine Tanzgruppe, die zum Gassenhauer „Go West“ der Pet Shop Boys eine Choreografie einstudiert hat, die festgelegten Bewegungen aber bald aufgibt, um sich einer wilden Polonaise hinzugeben. Die Szene wird ganz am Ende wieder aufgegriffen, wenn Tao, eine der drei Hauptfiguren (Tao Zhao), noch einmal zu „Go West“ tanzt, diesmal in einer verschneiten Einöde am Rand von Fenyang. Eine tolle Szene, aber auch eine, die ein leises Problem von „Shan he gu ren“ andeutet. Wo am Anfang die Ausgelassenheit der Gruppe war, sieht man jetzt, 26 Jahre später, die Resignation einer älteren Frau, allein in der Totalen. Mit anderen Worten: Der chinesische Regisseur wird in diesem Film bisweilen allzu deutlich, wenn es gilt, die Entfremdung ins Bild zu setzen, die die gewaltige Transformation der chinesischen Gesellschaft mit sich bringt.
CRISTINA NORD