: 57 Minuten Transzendenz
HYPERTROPHISCHE MUSIK Kirchenanzünden ist retro: Die US-Black-Metal-Band Liturgy um Sänger und Theoretiker Hunter Hunt-Hendrix will mit ihrem irren neuen Album „The Ark Work“ nicht weniger als den Nihilismus überwinden. Nun kommt sie auf Tour
VON JENS UTHOFF
Man hat schon geahnt, dass Hunter Hunt-Hendrix es ernst meint. Der Sänger und Mastermind der Brooklyner Band Liturgy hatte bereits zum Album „Renihilation“ (2009) eine Art ultimative Katharsis via Black Metal angekündigt. In seinem Manifest „Transcendental Black Metal: A Vision Of Apocalyptic Humanism“ breitete er eine neue philosophische Theorie der intensiven Spielarten der metallischen Zunft aus.
In dem Text, zu finden in der Monografie „Hideous Gnosis Black Metal Theory Symposium“, erklärt er, was es mit dem Transcendental Black Metal auf sich hat – dem Genre, das er, damals noch als Einmannunternehmen, begründet hat. Er spinnt sich da eine Vision von Black Metal zusammen, die den Nihilismus überwinde und zur Affirmation finde.
Ein Genre, das die skandinavische Ausprägung des Black Metal hinter sich lasse und jenem eine dem Leben zugewandtere US-Version entgegenstelle. Gleichzeitig wolle er eine „hypertrophische“ Musikgattung entwickeln, schließlich sei das Leben ständiges Werden und Wachsen, stetige Revolution.
Puh. Heavy Stuff. Die musikalische Revolution aber hat Hunt-Hendrix spätestens jetzt ausgerufen. „The Ark Work“ ist das erste richtige Großereignis dieses Metaljahrgangs, denn die Band füllt mit diesem Album all die – den abgedrehteren Spielarten des Poststrukturalismus entnommenen – Denkmodelle aus, die Hunt-Hendrix verbreitet.
Das Ende März erschienene Album der vierköpfigen Band, das stilistisch mit der Kategorisierung Black Metal völlig unzureichend beschrieben wäre, ist permanente Anstrengung, Zumutung, Überwältigung. Zugleich ist es Neuerfindung und Weiterentwicklung. In diesem Fall kann man es Hunt-Hendrix, für die Kompositionen zuständig, abnehmen, wenn er gegenüber dem Magazin Vice sagt, er habe vor der Arbeit an die Aufnahmen gedacht: „Ich würde es lieben, ein Album zu hören, das so klingt wie dieses, aber so etwas gibt es noch nicht – also mache ich es selbst.“
„The Ark Work“ beginnt mit Posaunen und Trompeten („Fanfare“), es folgen („Follow“) Glockenspiele und ein Double-Bassdrum-Inferno, danach gibt es rauschhafte, pathosbeladene Sample-Einspielungen, und Beats werden – zwischenzeitlich auch schön arhythmisch – eingestreut.
Kurz darauf hört es auch schon auf, dass man über das dritte Album Liturgys linear berichten könnte. Denn im Prinzip wird in der Folge auf Stile aus der gesamten Musikgeschichte zurückgegriffen und das Ganze durch den Zementmixer gerührt. Es klingt von Mönchsgesängen über klassische Ouvertüren bis zu Technoidem, Classic Rock, Free-Jazz und HipHop fast alles an.
Oper der Postapokalypse
So schaffen Liturgy – instrumentiert von Glockenspiel, Dudelsack, Streichern, Chören usw. – eine Art postapokalyptische Oper, die schon auf Albumlänge hervorragend funktioniert. Ab und zu legt sich Hunt-Hendrix’ Gesang melodisch über das Chaos; er singt sehr clean, auch das wäre im Black Metal eher unüblich. Die Einflüsse, so Hunt-Hendrix, reichten von der R&B-Legende Bone Thugs-N-Harmony über Bands wie Slipknot oder Korn (Letztere hätten ihn als Kind begeistert) bis hin zur Musik der norwegischen Metzel-Band Burzum (die Gruppe des Faschisten Varg Vigernes, der in Black-Metal-Kreisen ästhetische Qualität oder gar Innovation nachgesagt wird). Er nennt aber genauso die Experimental-Postrocker Swans oder Lightning Bolt und deren Circuitbreaking-Noise als Inspiration.
Deutlich hörbar ist auch, dass Hunt-Hendrix sich seit dem vor vier Jahren erschienen letzten Album „Aesthetica“ noch intensiver mit dem Sample-Programm Ableton beschäftigt hat. Beats, Samples und Töne wirken zum Teil wie Elektroschocks, die er genüsslich anknipst. Faszinierend ist, dass dabei ein stimmiges und hörbares Ganzes herauskommt, und das ist auch Gitarrist Bernard Gann, Bassist Tyler Dusenbury und Drummer Greg Fox zu verdanken, die wesentlich mehr sind als nur Erfüllungsgehilfen des obskuren Großmeisters (der übrigens offenbar wirklich bürgerlich Hunter Hunt-Hendrix heißt).
Das Schlagzeuginferno ist dabei besonders hervorzuheben; wie Fox über Tomtom, Snare und Becken wirbelt, ist vollendetes Tennis. Und wenn man alle zehn Songs nimmt, so ist es großer Sport, den die vier Herren, alle so um die 30, hier ohne Atempause abliefern. Liturgy schenken uns 57 Minuten Transzendenz. Ins Diesseits möchte man danach nicht unbedingt zurückkehren.
■ Liturgy: „The Ark Work“ (Thrill Jockey/Rough Trade)
■ Live: 25. 5., Berghain Kantine, Berlin; 30. 5., Kampnagel, Hamburg; 31. 5., UT Connewitz, Leipzig; 2. 6., Feierwerk, München; wird fortgesetzt