„Viele haben es satt, fremdbestimmt zu werden“

FORTSCHRITT II Auf eine Vielfalt von Gegenkonzepten zur heutigen Ökonomie setzt die Philosophin Barbara Muraca. Sie plädiert für einen neuen, wachstumskritischen Fortschrittsbegriff, der mehr Selbstbestimmung und Kooperationen beinhaltet

■ 44, lehrt und forscht an der Universität von Oregon, USA. Zuvor arbeitete die Philosophin am Kolleg Postwachstumsgesellschaften der Universität Jena. Sie stammt aus Italien.

INTERVIEW HANNES KOCH

taz: Frau Muraca, ist es Fortschritt, wenn Leute in einem Dorf in der Eifel oder im Thüringer Wald einen Tante-Emma-Laden aufmachen, weil sie einen Ort der nachbarschaftlichen Kommunikation vermissen und nicht mehr zehn Kilometer ins nächste Geschäft fahren wollen?

Barbara Muraca: Wenn da mehr passiert, als Milch und Bier zu verkaufen, ja. Häufig werden solche Projekte als Genossenschaften organisiert. Dabei kann es gelingen, dass die Menschen ihr Gemeinwesen gemeinsam gestalten und mehr Selbstbestimmung gewinnen, als sie vorher hatten. Fortschrittlich wäre es auch, mit neuen Formen des Wirtschaftens zu experimentieren, beispielsweise Lebensmittel anzubieten, die in der Region erzeugt wurden.

Mehr Gestaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen – ist das zentral für Ihren Begriff von Fortschritt?

Es geht weniger um jeden Einzelnen, sondern um mehr kollektive Gestaltungsmöglichkeiten: Bürgerinnen und Bürger, die über die Art und Weise entscheiden, wie, wo, unter welchen Bedingungen etwas produziert wird. Ja, das ist sicherlich ein Teil meines Verständnisses von Fortschritt. Man kann es auch Emanzipation nennen. Wichtig finde ich, dass sie es in Kooperation tun, damit die Interessen möglichst vieler berücksichtigt werden.

Der herrschende Fortschrittsbegriff, der während der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert entstand, beinhaltet ebenfalls, dass die Individuen zusätzliche Freiheitsgrade erreichen. Wo liegt der Unterschied?

Tatsächlich ist Fortschritt heute vergleichbar mit einer Autobahn, die nur in eine Richtung führt und von hohen Leitplanken begrenzt wird. Immer geht es um Wirtschaftswachstum und zunehmenden Reichtum. Das ist ein Zwang – das Gegenteil von Emanzipation.

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Firmen in Gemeinschaftseigentum entstanden – etwa Genossenschaften, die Windräder betreiben. Warum machen Bürger das neuerdings?

Viele haben es satt, fremdbestimmt zu werden. Sie empfinden die vermeintliche Freiheit der Konsumenten nicht mehr als solche, sondern entdecken wieder ihr Bedürfnis nach einer anderen, umfassenderen Selbstbestimmung jenseits des Marktdiktats.

Welche gesellschaftlichen Mängel will man damit ausgleichen?

Die Produktion von Waren und Dienstleistungen kann man über die klassischen politischen Wege heute nicht mitbestimmen. Menschen experimentieren deshalb mit neuen Formen der Produktion wie etwa den Commons. Das können zum Beispiel städtische Gärten sein, die Bürger gemeinsam bewirtschaften. Oder sie gründen Bürgerinitiativen wie die Transition Towns, die versuchen, Städte und Stadtviertel aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu befreien. Diese Experimente funktionieren als konkrete Utopien. Sie geben den Leuten die Möglichkeit, sich schon in der Gegenwart zumindest teilweise aus ökonomischen Zwängen zu befreien, und sie schaffen Räume für die Zukunft.

Was unterscheidet diese Räume vom herrschenden Fortschrittsmodell?

Die heute propagierte Freiheit besteht bei genauer Betrachtung nur darin, einen Lebensstil auszusuchen. Diejenigen, die genügend Geld besitzen, genießen eine große Optionsvielfalt. Man kann in der Stadt oder auf dem Land leben, Berufe und zahlreiche Produkten auswählen.

Unterschlagen Sie hier nicht die politischen Bürgerrechte einschließlich des demokratischen Wahlrechts – ebenfalls große zivilisatorische Schritte?

Die politische Freiheit, die ich meine, wäre weiter gefasst. Sie bedeutet, auch den gesellschaftlichen Rahmen der Produktion mitgestalten zu können. Wie kommen die Produkte zustande, die wir kaufen, decken sie unsere Bedürfnisse, brauchen wir sie überhaupt? Warum kann ich heute kein Smartphone erwerben, das 20 Jahre lang funktioniert? Eigentlich ist es doch so: Wir haben uns angewöhnt, Bedürfnisse zu entwickeln, damit die Wirtschaft weiter wächst. Eben aus diesem Teufelskreis wollen viele Bürger aussteigen, indem sie versuchen, die Wirtschaft in die eigenen Hände zu nehmen.

Sie hegen Sympathie für das Modell des „guten Lebens“. Was verstehen Sie darunter?

Eine Vielfalt von Gegenkonzepten zu unserer heutigen Ökonomie. Es geht darum, Lebensqualität umfassender zu definieren als bloß als individueller Lebensstil. Gut leben können wir zusammen nur, wenn wir die Bedingungen unseres Zusammenseins gemeinsam und demokratisch bestimmen.

Wirtschaftswachstum mindert soziale Konflikte, weil der Zuwachs auf alle verteilt werden kann. Warum wollen Sie auf diesen stabilisierenden Mechanismus verzichten?

Inzwischen gibt es Belege dafür, dass die unausgesetzte Expansion die westlichen Gesellschaften eher destabilisiert. Selbst wenn die Wirtschaft wächst, steigt die soziale Ungleichheit.

Sie sehen den Kern der demokratischen Wohlfahrtsstaaten bedroht. Was heißt das konkret?

Wohlfahrtsstaaten haben sich lange Zeit durch Wachstum stabilisiert. Nun aber bewirkt das Beharren darauf um jeden Preis genau das Gegenteil: Viele Menschen werden unter Druck gesetzt, damit das System weiterläuft. Die Hartz-IV-Reform senkte die Sozial- und Lohnkosten und sollte weiteres Wachstum ermöglichen. Aber auch Beschäftigte, die nicht am unteren Rand der Gesellschaft leben, sind betroffen. Die Arbeitsleistung, die man ihnen abverlangt, und das Lebenstempo nehmen dramatisch zu.

Millionen Menschen sehen in weiter zunehmendem Wohlstand aber keinen Stress. Sie freuen sich auf eine schönere, größere Wohnung. Eltern wünschen sich für ihre Kinder ein angenehmeres Leben. Wie wollen Sie dem entgegenwirken?

Ich bezweifele, dass solche Wünsche für die Mehrheit der Bürger in den westlichen Industriestaaten noch realistisch sind. Gegenwärtig arbeite ich an der Universität von Oregon in den USA. Obwohl dies eine staatliche Hochschule ist, müssen die Studenten große Summen Geldes borgen, um überhaupt studieren zu können. Nach dem Abschluss sind sie hoch verschuldet, finden aber häufig nicht mehr die gut bezahlten Arbeitsplätze, die es früher in größerer Zahl gab. Die Folge davon ist: Die Studenten von heute werden für ihre Kinder weniger gut vorsorgen. Bildung und Wohlstand der bürgerlichen Schichten könnten deshalb künftig stagnieren. Das Wachstumssystem kann sein Versprechen des ewigen materiellen Fortschritts also nicht mehr einhalten. Zudem bedroht der Klimawandel – auch eine Folge des industriellen Wachstums – die Lebensbasis hunderter Millionen Menschen.

Dass der Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid in Europa und Deutschland trotz Wachstum zurückgeht, zeigt doch, dass wir die Probleme lösen können, ohne das System grundsätzlich zu ändern.

Das halte ich für falsch. Prinzipiell steht zwar saubere Sonnenenergie unbegrenzt als Ersatz für die fossilen Rohstoffe zur Verfügung. Doch der Zugang dazu ist nicht ohne Weiteres und unbegrenzt möglich. Schließlich bräuchten wir sehr große Flächen, um Sonnen- und Windkraftwerke zu errichten. Dieser Platz ist jedoch nicht unendlich vorhanden, in dicht besiedelten Staaten wie Deutschland schon gar nicht. Deshalb müssen wir den Energieverbrauch massiv reduzieren – eine Art Antiwachstumspolitik.

Würde nicht ein Teil der Wüste Sahara reichen, um ganz Europa mit Sonnenstrom zu versorgen?

Nur theoretisch. Praktisch ist das Projekt Desertec nicht weit gekommen, mit dem hiesige Industriekonzerne Wüstenstrom für Deutschland produzieren wollten. Es spricht zu viel dagegen: die neuen, kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb der arabischen und afrikanischen Staaten, die dortige Angst vor neuen Formen des Kolonialismus. Diese politischen Grenzen deuten ebenfalls daraufhin, dass wir uns vom Zwang zum Wachstum verabschieden müssen.

■  Mehr Fortschritt: Als erster Teil dieser Gesprächsreihe erschien am 4. April ein Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Claus Leggewie