: Ein zerquatschtes Juwel
OPERN-PREMIERE Mit François Antoine Boieldieus „La Dame Blanche“, der vielleicht erfolgreichsten französischen Oper des 19. Jahrhunderts, nutzt das Staatstheater Oldenburg die aktuelle Diskussion ums Erbrecht und knallt den Megahit des Restaurationstheaters auf die Bühne. Es gerät zum Trauerspiel
Es ist ein Debakel, so viel vorweg. Denn aus der Ferne könnte es ja wirken wie eine ungewöhnlich mutige Programmierung. Wow!, könnte man denken. Da nutzt das Staatstheater Oldenburg doch tatsächlich die aktuelle Diskussion ums Erbrecht und Thomas Pikettys Befund, nachdem auch im 21. Jahrhundert das Kapital vor allem dort groß ist, wo es über Generationen tradiert wurde – und knallt einfach in einem Akt politischer Unkorrektheit den Megahit des Restaurationstheaters auf die Bühne. Da reagiert jemand auf die Remilitarisierung – und zeigt frech und unerschrocken François Antoine Boieldieus „La Dame Blanche“, die vielleicht erfolgreichste französische Oper des 19. Jahrhunderts.
Deren größter Hit, die Tenor-Arie „Ah!, quel plaisir d’être soldat“ – oh welche Lust Soldat zu sein – war im Elend der Schützengräben unerträglich geworden. Mit Ende des Ersten Weltkriegs verschwand das Werk von den Bühnen, auch der Siegermächte – ebenso schnell und vollständig, wie es sie, 100 Jahre zuvor, erobert hatte. Und jetzt – eine derart naive Militärbegeisterung wäre ein echter Affront für eine sich pazifiziert gebende Gesellschaft. Theater ist dann gut, wenn es seine Gegenwart herausfordert.
Aber davon kann im Oldenburger Fall, leider, keine Rede sein: „La Dame Blanche“ erzählt die Geschichte eines jungen Adligen. Der kehrt, im Krieg amnesisch geworden, per Zufall – oder göttlicher Fügung – an den zur Versteigerung stehenden Stammsitz seiner Familie zurück. Dort wird er von einer vermeintlichen Geistererscheinung, der Weißen Dame, gedrängt, bei der Auktion weit mehr zu bieten, als er zahlen könnte – und schließlich als wahrer Erbe bewiesen: Die feudale Ordnung ist wiederhergestellt.
Die Handlung traf den postnapoleonischen Zeitgeist, war aber nie der Grund für den Erfolg dieser Oper, die schon drei Jahre nach der Uraufführung in Lüttich, Brüssel, Wien, Berlin, ja selbst in Moskau und New York nachgespielt und gefeiert wurde: Es war die Musik, die rhythmisch-komplex und melodienreich, volksliedhaft und mit ausgetüftelter Instrumentierung begeisterte. Sie lässt, con brio gespielt, über die Holprigkeiten des in Eugène Scribes Textfabrik aus Walter Scott-Motiven zusammengeschraubten Librettos hinweghören.
Das klappt in Oldenburg nicht. Das liegt am wenigsten an der Sopranistin Valda Wilson, der eine fulminante Interpretation der Titelfigur gelingt, und es liegt auch nicht am Tenor Nicola Amodio, der den verwirrten Offizier zwar sauber und klanglich schön, aber mitunter so schwächlich singt, als stecke er und nicht Wilson unter einem dicken weißen Schleier. Und es könnte – trotz etwas zögerlichem Tempo und vernebelter Akzente in der Ouvertüre – dem Oldenburgischen Staatsorchester unter Vito Cristófaros Dirigat gelingen, wenn nicht Regisseurin Nadja Loschky dem laut Programmheft „vergessenen Juwel“, statt es zu polieren, auszuleuchten und hie und da moderner anzuschleifen, eine Rahmenhandlung aus Plastik verpasst hätte.
Die lässt sich als Schmunzelkrimi identifizieren. Für den schickt Loschky die einschlägig erfahrene TV-Darstellerin Karla Trippel als gleichnamige Kommissarin und den Nachwuchsschauspieler Lucas Federhen als deren Assistenten ins Rennen. Mit Kunstgriffen des 1970er Kindertheaters – Szenen werden eingefroren, die zu befragenden Akteure mit Fingerschnippen aus der Erstarrung in zappelige Overacting-Soli geweckt – lässt sie diese langwierig über das räsonieren, was sich zuvor ereignet hat. Von normal zwei Stunden erhöht sich die Spieldauer trotz fragwürdiger Streichungen in der Partitur auf zähe 190 Minuten. Es ist ein Trauerspiel.
Das völlig entgleist, weil Loschky versucht, den Ersten Weltkrieg in den Dienst ihres Amüsements zu stellen: Während Gabriele Jaeneckes Kostüme und Daniela Kercks Kulisse die Handlung unspektakulär in jene Epoche verlagern, will Loschky einen Gag daraus machen. So lässt sie bei der Geistererscheinung weißgekleidete Choristen mit Gasmaske auf die Bühne schleichen. Ihre Kommissarin diagnostiziert Traumata des Stellungskriegs an einer Person, nennt epilepsieartige Anfälle als Symptome, schnippst die Figur an – die zappelt und hampelt. Plötzliche Wutausbrüche seien möglich, schnipps: Mit Gebrüll fährt die Person in die auseinanderstiebende Menge. Ein Spaß soll das sein, es ist alles ein Spaß. Es ist alles so peinlich. BENNO SCHIRRMEISTER