: WIR:HIER
Kapitel 26
Matteo nahm die silberne Medaille aus der Schatulle und untersuchte sie. Auf der matten Vorderseite fand sich die Abbildung eines Adlers, dessen Klauen ein Hakenkreuz festhielten, eingerahmt von dem Text „Für ausgezeichnete Leistungen im Dienst der Luftwaffe“, auf der Rückseite nur eine Gravur: „Der Oberbefehlshaber der Luftwaffe Reichsmarschall Göring“.
„Krasse Scheiße. Göring. Das war der Fette, oder?“ Er legte die Medaille vorsichtig zurück und inspizierte jetzt das ovale Stoffstück mit einem gestickten Adler, diesmal mit zwei Blitzen in den Krallen. An den ausgefransten Rändern erkannte man die kleinen Löcher von Nadelstichen. Als Letztes nahm er die Murmel, eine ganz und gar gewöhnliche blaue Murmel, und hielt sie gegen die Deckenlampe. „Oberkrasse Scheiße“, sagte er noch mal. „Das hast du im Tunnel gefunden? Und warum zeigst du das erst jetzt?“
„Ich hab das Kästchen aus dem Augenwinkel gesehen und einfach eingesteckt. Es ging in dem Moment schließlich mehr darum, dich rauszubringen. Ich hab es auch nicht direkt vergessen, aber das mit Cems Vater war doch wichtiger. Was machen wir damit?“
„Die Medaille ist auf jeden Fall verboten, wegen dem Hakenkreuz, oder? Und dieses Stoffdings, ich hab keine Ahnung, war das eine besondere Auszeichnung oder bekamen das alle Soldaten? Und was bedeutet die Murmel? Kann ich hier rauchen? Ich muss jetzt dringend eine rauchen.“
„Ja, am Fenster. Also, ich hab mir das so gedacht: Das war ein Schatzkästchen von einem kleinen Mädchen, die im Tunnel mit ihrer Mutter Schutz gesucht hatte. Das Kästchen hatte sie immer bei sich, wahrscheinlich war die Familie ausgebombt und irrte nur mit einem Koffer durch Berlin. Der Vater, dem die Medaille und das Stoffdings gehörten, war gefallener Soldat. Lass mich mal ziehen.“ Sie lehnte sich neben Matteo an das geöffnete Fenster. „Also, der Vater tot und die Kleine hatte das Kästchen zum Andenken an ihn von der Mutter bekommen. Die Murmel war sein letztes Mitbringsel für sie, bevor er abgeschossen wurde. Als die Nazis den Tunnel geflutet hatten und der voll Wasser lief, brach das totale Chaos aus. Da unten hockten rund fünftausend Menschen, die Schiss hatten zu ertrinken. Und in der Panik hat das Mädchen sein Kästchen da verloren, wo ich es gefunden habe.“
„Schluchz! So eine schöne Geschichte.“
„Ja, mach dich nur lustig. Es kann auch anders gewesen sein, wer weiß. Und ich hab keine Ahnung, was wir mit dem Zeug anstellen sollen.“
Laura hockte sich ins geöffnete Fenster und legte ein Kissen über ihre Knie, Matteo lehnte sich aufs Polster und hörte weiter zu. Laura hatte im Internet eine Abbildung vom Orden gesucht und gefunden, das Abzeichen war schwieriger zu identifizieren.
„Das sind eklige Seiten, auf denen man landet. Alle schreiben: Es geht uns nicht um Verherrlichung des Dritten Reichs, aber das stimmt nicht. Schon die Wortwahl „Drittes Reich“ ist Nazijargon. Ich kann mir genau vorstellen, wie ihnen einer abgeht, wenn sie sich mit Panzern und Uniformen und Waffengattungen beschäftigen dürfen. Kackbratzen! Der Orden jedenfalls ist von der Luftwaffe, hast du ja gesehen, und wurde für mindestens fünfzig ‚Feindsichtungen oder Kampfhandlungen‘ verliehen. Der Papa vom Murmelmädchen war also vermutlich Pilot.“ Während sie weitersprach, fiel es Matteo immer schwerer zuzuhören. Wie konnte von Lauras Beinen durch die Jeans und das Kissen eine solche Hitze ausstrahlen? Das muss sie doch auch merken. Hände stillhalten, um Gotteswillen nicht streicheln! Ein unsanfter Klaps holte ihn zurück.
„Hast du gehört?“ Laura sprang vom Fensterbrett. „Der wird im Internet für 1.300 Euro angeboten.“
„Und?“
Laura verdrehte die Augen über seine Begriffstutzigkeit und weihte ihn in ihre Überlegungen ein. Sie hätten zwei Optionen, sagte sie, zwischen denen sie entscheiden könnten. Entweder sie tragen das Kästchen ins Museum, möglicherweise können die damit was anfangen. Vielleicht müssten sie das Kästchen aber auch zur Polizei bringen, wegen Nazisymbolik und so. Oder – andere Möglichkeit – sie versuchen, die Sachen zu verticken und geben Cem den Erlös.
„Klar verkaufen wir die.“
„Echt jetzt? Ich dachte, das fändest du unmoralisch.“
„Nee, im Gegenteil. Das ist total gerecht. An dem Zeug klebt Blut, der Typ war Nazi und hat Menschen umgebracht, war stolz darauf, feindliche Flugzeuge abzuschießen. Und seine Frau war sicher auch überzeugte Nationalsozialistin, sonst hätte sie die Auszeichnungen nicht in den Bunker mitgenommen. Wenn wir die jetzt zu Geld machen, wird aus einer schlechten Sache am Schluss doch noch etwas Gutes. Cems Vater sitzt wegen Wehrdienstverweigerung, das wäre voll ausgleichend, ihn mit Soldatengeld rauszuholen.“
„Aber es kann doch auch ganz anders gewesen sein. Das Murmelmädchen war Jüdin, die vom Piloten und seiner Frau versteckt wurde. Der Pilot wurde wegen antideutscher Propaganda oder so etwas hingerichtet und das Mädchen hat die Orden als Erinnerung behalten, weil eben doch nicht alle Menschen schlecht waren. Wenn wir das Kästchen einem Museum geben, finden die vielleicht die Geschichte dahinter raus.“
„Auf jeden Fall müssen wir Cem und Szusza sofort davon erzählen. Du kannst nicht wieder so ein Ding alleine durchziehen“
Laura ging zurück zum Fenster und stellte sich neben Matteo. „Guck mal.“ Sie zeigte in den Himmel. „Heute kann man die Sterne sehen.“
■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de