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Archiv-Artikel

Zwei Klassetypen

ENTSCHEIDUNG Die Bewerbung des Landesministers Robert Habeck als Spitzenkandidat im nächsten Bundestagswahlkampf hat die Berliner Grünen-Spitze aus ihrer wohltemperierten Ruhe gerissen. Was will dieser Habeck? Das muss sich vor allem Parteichef Cem Özdemir fragen

Macht und Ohnmacht

■ Land: Die Grünen sind an neun Regierungen in den Ländern beteiligt – unter anderem in Bremen, wo am Sonntag gewählt wird.

■ Bund: Bei der Bundestagswahl 2013 holten sie mit 8,4 Prozent ihr historisch drittbestes Bundestagswahlergebnis und wurden zur kleinsten Oppositionspartei. Das wurde als große Enttäuschung wahrgenommen, weil die Partei 2011 nach dem Reaktorunglück von Fukushima in Umfragen Rekordwerte erreicht hatte. Anfang April 2011 hatten Meinungsforscher ihren Spitzenwert von 28 Prozent gemessen. Es wurde sogar diskutiert, ob die Grünen nun einen Kanzlerkandidaten aufstellen müssten. Bei den jüngsten Sonntagsfragen kamen die Grünen auf 10 Prozent.

■ Kandidaten: Neben Robert Habeck, Cem Özdemir und Fraktionschef Anton Hofreiter wird vor allem Katrin Göring-Eckardt als weitere Anwärterin um die Spitzenkandidatur für den Bundestagswahlkampf 2017 gehandelt.

■ Früher: Bisher traten als Spitzenkandidaten für die Grünen an: Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt (2013: 8,4 Prozent), Jürgen Trittin und Renate Künast (2009: 10,7 Prozent), Joschka Fischer (2005: 8,1 Prozent), Joschka Fischer (2002: 8,6 Prozent).

■ Im Netz: Ein Interview mit Parteichef Özdemir über den Spitzenkandidaten-Bewerber Habeck lesen Sie auf: taz.de/özdemirüberhabeck

AUS BERLIN UND KIEL ASTRID GEISLER UND PETER UNFRIED

Am frühen Nachmittag des 1. Mai setzt sich Robert Habeck mit engen Freunden in einen Garten in Schleswig-Holstein, um das Ganze von vorn bis hinten durchzudiskutieren. Was würde das heißen für Landespartei, Landesregierung, Bundespartei und für ihn, wenn er sich einer Urwahl als grüner Spitzenkandidat für die Bundestagswahl 2017 stellt? Was würde es heißen, wenn er sich nicht stellt? Klar ist, dass er sich jetzt entscheiden muss. Sein Landesverband hat ihn ultimativ dazu aufgefordert. Als sie reden, scheint erst die Sonne. Dann regnet es. Dann scheint wieder die Sonne. Nach vier Stunden stehen alle auf und klatschen sich ab. So erzählen es Augenzeugen. Wie ein Team vor dem Spiel in der Kabine.

Habeck, 45, hasst Kitsch. Aber die große Gabe des Vize-Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein besteht darin, pathetische Momente zuzulassen, sodass sie angemessen erscheinen als notwendige Kraft, um die Verhältnisse zu ändern. Das ist kein rhetorischer Trick, das ist die Wirkung seiner Persönlichkeit. Dazu gehört, dass sogar Leute, die ihn länger kennen, ihm immer noch abnehmen, was er sagt.

Er sagt, er liebe sein Amt als Landesminister. Trotzdem will er Spitzenkandidat im Bund werden. Nicht aus machtpolitischen oder karrieristischen Motiven. Das sei vielmehr das Ergebnis der Gartendebatte, eine „auf den Kern meiner Persönlichkeit zurückgehende Entscheidung“.

Es ist Mittwoch, Habeck sitzt in seinem Energiewendeministerium in Kiel. Er ist ernst und wirkt irgendwie erleichtert. Jetzt weiß er auch selbst, woran er mit sich ist.

Lange lag ihm der Gedanke an Berlin aus verschiedenen privaten und beruflichen Gründen fern. Aber seit der Niederlage bei der Bundestagswahl 2013 immer weniger. Habeck ist unzufrieden mit den Dingen, wie sie sind. „Ich habe das Gefühl“, sagt er, „dass die Alternativlosigkeit von Frau Merkel als Grundmelodie in die politische Kommunikation eingezogen ist“. Nicht mit der Alternativlosigkeit einverstanden zu sein, beinhalte, dass man Alternativen schaffe. „Dass man sich traut, eine Entscheidung zu treffen, zu der die Leute ja oder nein sagen können.“ Er sieht sich als alternatives Angebot.

Die Nachricht von seiner Entscheidung erreicht das politische Berlin am Dienstagnachmittag. Im Reichstag, oberste Etage, berät die Grünen-Fraktion die Themen der Parlamentswoche. Eine Eilmeldung läuft über die Ticker. Die Bundesvorstände werden unruhig, die ersten gehen raus auf den Flur. Wollte Habeck das nicht am Samstag beim Landesparteitag in Lübeck verkünden?

Die offiziellen Reaktionen: Freundlich, entspannt. Eine Partei, die gern unkonventionell sein will, freut sich über erfrischende Dynamik.

Inoffiziell sieht es etwas anders aus. Habeck bringt die Spitze der Grünen mit seiner frühen Ansage durcheinander. Sie wird bei den Flügeltreffen diskutiert, von Realos und Linken, auf Kosten und Nutzen geprüft. Seit Monaten wirkte die Partei wie in einem gläsernen Käfig. Gefangen in ihrer eigenen Ratlosigkeit und einer panischen Angst vor Unruhe. Auf Rot-Rot-Grün im Jahr 2017 hoffen derzeit selbst linksgrüne Strategen nicht. Bliebe Schwarz-Grün. Doch der offizielle Grünen-Claim lautet erst einmal „Eigenständigkeit“. Keine weitere Diskussion, bitte.

Ohne Habeck hätte es womöglich gar keine Urwahl gebraucht und Kandidatin und Kandidat hätten sich in Berlin von selbst sortiert. Das hätte den einen gepasst, den anderen dagegen überhaupt nicht – weil der Kandidat so Cem Özdemir wäre, der bei den Linken als Superrealo gilt. „Regierungsgeil“, lautet eins der fieseren Attribute, die man so hört. Es gibt deshalb unter Grünen auch eine Theorie, die besagt, die Linken hätten Habeck ins Spiel gebracht, weil der als minderschwerer Realofall gilt, mit dem man immerhin Özdemir verhindern könne. Oder, noch eine These: Damit die Realos Özdemir und Habeck sich kannibalisieren und der zweite Spitzenkandidat vielleicht doch der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter wird, ein Linker. So kann man sich das zumindest zurechtspinnen.

Dass die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt nach 2013 zum zweiten Mal ganz vorn steht, gilt als wahrscheinlich, obwohl ihr erster Anlauf mit einem Wahlergebnis von 8,4 Prozent desaströs endete. Und es kann nur einen Mann geben, theoretisch aber zwei Frauen.

Der letzte Samstag im April. Grüne aus ganz Deutschland strömen in einen Veranstaltungssaal im Berliner Osten. Zu DDR-Zeiten diente das Gebäude als Turnhalle, jetzt findet hier zwischen Sprossenwänden und Espressobar ein kleiner Parteitag der Grünen statt. Offiziell kreist dieses Delegiertentreffen um die Familienpolitik und die europäische Finanzkrise. Tatsächlich geht es längst um die künftige Machtverteilung.

Cem Özdemir steht mit durchgedrücktem Kreuz an einem Rednerpult auf einer improvisierten Bühne. Der graue Anzug sitzt wie immer perfekt. Keine Krawatte. Für seine Verhältnisse ein ziemlich legerer Look. Ringe unter seinen Augen erzählen vom Stress der vergangenen Monate. Mit beiden Handkanten zerhackt er die Luft. Der Parteichef kämpft nicht nur um die Aufmerksamkeit der Delegierten, sondern um ihre Gunst. Özdemir streift die europäische Flüchtlingspolitik, die Krise in Griechenland – und seine Verdienste als Parteichef. „Manchmal fragt man sich: Habe ich eigentlich was verändert? Habe ich wirklich was bewegt?“ Er gibt die Antwort gleich selbst: Gerade erst hätten die Grünen aus der Opposition den entscheidenden Anstoß dafür gegeben, dass der Völkermord an den Armeniern nicht länger negiert werde. Applaus aus dem Saal verschlingt seine nächsten Worte. Die Armenien-Debatte war sein Erfolg.

Es werden noch neun Tage vergehen, bis Habeck seine Entscheidung bekannt macht. Vielleicht wirbt Özdemir auch deshalb so sehr mit seinen persönlichen Erfolgen, weil er schon ahnt, was kommt.

Der eine tritt mit 15 ein, der andere erst mit 32

Er ist es doch, den Meinungsforscher als einzigen Berliner Spitzengrünen kürzlich zu den zehn wichtigsten deutschen Politikern zählten. Er hat den Außenpolitiker gegeben: gewann bei den Grünen Rückhalt für seine Forderung nach Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak, machte Schlagzeilen mit der Idee einer EU-Armee. Nebenher setzt er sich als Freund der Unternehmer in Szene. Ein großer Wirtschaftskongress der Grünen steht bevor. Im November die Wiederwahl als Parteichef.

Danach wäre der perfekte Zeitpunkt für die Krönung zum Spitzenkandidaten. Eine neue Etappe im Leben des Fabrikarbeiterkindes, des selbsternannten „anatolischen Schwaben“, der mit 15 bei den Grünen eintrat, mit 28 gegen alle Widerstände als erster Sohn türkischer Eltern in den Bundestag vorstieß. Damals, 1994, tagte das Parlament noch in Bonn, der Fraktionschef hieß Joschka Fischer und schnappte dem Neuling erst mal das Büro und die Sekretärin weg.

Özdemir steht wie kein anderer für Deutschlands Wandel zur Einwanderungsgesellschaft. Ein Posten in einer Bundesregierung wäre das perfekte Happy End seiner Aufsteigergeschichte. Nur ist da jetzt plötzlich Habeck.

Robert Habeck geht vom Besprechungstisch rüber zum Fenster seines Ministerbüros. Ein, euphemistisch gesagt, funktionaler Bau, aber vom zehnten Stock aus mit grandiosem Blick auf die Förde. Und ganz hinten am Horizont liegt Heikendorf, wo er aufgewachsen ist. Behütete Mittelschichtskindheit, die Eltern führten die Apotheke am Rathaus. Gymnasium. Studium. Doktor der Philosophie. Der Bruder war schon in der Jugend bei den Grünen, Habeck trat erst mit 32 ein. Er hatte vorher anderes zu tun. Promotion. Mit seiner Frau Bücher schreiben, Familienarbeit machen.

Zwei Jahre nach Parteieintritt war er Landesvorsitzender, fünf Jahre darauf übernahm er die Fraktion, 2012 führte er die Grünen mit Rekordergebnis von 13,2 Prozent in die Links-Koalition mit SPD und dem Südschleswigschen Wählerverband. Es war die Zeit, als die Piraten die Länderparlamente eroberten und die Grünen ein Jahr nach Fukushima von der Volkspartei zurück in die Nische schrumpften. In Berlin rieten sie zu Zurückhaltung, aber Habeck attackierte den neuen Gegner direkt vor der Wahl trotzdem volle Pulle. Es reichte „Arsch auf Hose“, wie er mal sagte, mit einer Stimme Mehrheit.

Cem Özdemir, 49, und Robert Habeck, 45, gehören zu einer Generation Politiker. Sie haben ähnliche Netzwerke bei den Grünen. Der eine wirkt seit Ewigkeiten im Bund, der andere nur im Land.

Aber die Macht hat sich verschoben – weg von der grünen Bundestagsblase, von der Parteizentrale. Die Grünen regieren in neun Bundesländern mit. In Baden-Württemberg stellen sie den Ministerpräsidenten, Winfried Kretschmann ist der wichtigste Grüne. Danach kommen die Vize-Ministerpräsidenten Robert Habeck und Tarek Al-Wazir in Hessen. Der Ort der Macht ist die baden-württembergische Landesvertretung am Rande des Berliner Tiergartens, wo sich alle Regierenden donnerstagabends im Kaminzimmer treffen und ihre Bundesratsstrategien beraten. Mittlerweile passen sie kaum noch alle rein.

Cem Özdemir hat seinen Wahlkreis in Stuttgart, seine wichtigsten Unterstützer kommen von dort. Im linken Flügel hat er sich mächtige Feinde erarbeitet, zu denen etwa Jürgen Trittin gezählt wird. Aber auch gemäßigte Realos halten ihm schon mal vor, in der Parteizentrale konservative, schwäbische Positionen zu verfechten.

In der richtigen Welt dagegen haben die meisten nie mitbekommen, dass es linke Grüne und grüne Realos gibt. Nur grüne Veggie-Day-Fleischverbieter. In der grünen Welt gibt es häufig nur entweder oder. Realo oder Fundi. Robert Habeck will genau dieses Denken herausfordern. Er bringt eine neue Ungewissheit. Die man als Chance sehen kann. Oder als Bedrohung.

In Heikendorf, wo Habeck herkommt, steht Karl-Martin Hentschel, 65, telefonierend in seinem Garten im Wind, der von der nahen Ostsee rüber bläst. Er ist Habecks Vorgänger als Fraktionsvorsitzender und „kein geborener Freund von ihm“, wie er sagt. Eigentlich wollte er 2009 weitermachen, da kam Habeck zu ihm und sagte, er werde kandidieren. Hentschel – Glatze, Dreitagebart – ist jetzt Autor und für Attac unterwegs. Und dann spricht ausgerechnet Hentschel über Habeck, wie man sich wünschte, jemand würde so über einen sprechen. Tja, sagt er, „selbst Gegner wie der Bauernverband haben Probleme, auf Habeck einzuprügeln“. Es sei auch für Parteilinke schwer, ihn nicht zu mögen. Ist der realpolitisch handelnde Minister Habeck denn „links“ genug? Hentschel stutzt. Ideologisch sei Habeck kein Linker, aber sehr wohl in seiner „Radikalität, Dinge zu verändern“ .

Habeck, sagt Hentschel, könne Leute mitnehmen, indem er zuhöre. Und er könne nicht nur gute Reden halten, er packe an. Hentschel mag keine Grünen, die immer nur in Pressemitteilungen kritisieren, was die anderen Unfaires machen, aber noch nie einen Gesetzentwurf geschrieben haben. „Macht selbst etwas“, war sein Credo.

In seinem Buch „Patriotismus. Ein linkes Plädoyer“ hat er schon 2009 ein „Linkssein“ skizziert, das den „Idealismus“ zur „coolsten Idee“ der Gegenwart macht. Wenn er nicht nur trotzig protestiert, sondern echte Veränderung anstrebt, also Gerechtigkeit und Internationalität in der Verantwortung. „Linker Patriotismus“ definiert sich nicht über einen Nationalstaat oder gar Blut und Boden, sondern über ein neues Wir, das sich dem Gemeinwesen verpflichtet. Dass die Grünen eine Volkspartei werden können und sollen, war für ihn immer Grundlage seiner Arbeit.

„Cool“ ist ein wichtiges Wort für Habeck. Er will ums Verrecken cool sein und gleichzeitig will er für Ergebnisse Kompromisse machen, und wenn man ihm sagt, dass das aber nicht als cool gilt, dann will er das nicht einsehen. Sondern ändern. Was Habeck ausmacht? „Brücken bauen“, sagt eine Grüne Landtagsabgeordnete. Es ist sein Tagesgeschäft. In der Partei, in der Koalition. Als Minister für Energie, Umwelt, Deichbau, Kohl, Kühe und vieles andere muss er täglich um das Verbindende ringen. Auf Kohltagen, bei Bauern, bei Windkraftgegnern.

Sie träumten von einer Partei ohne Flügel

Als er 2002 eintrat, dachte er tatsächlich, die Grünen seien cool. Einige Mitstreiterinnen, der Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz und Habeck haben den schleswig-holsteinischen Landesverband dann zu runderneuern versucht, als Partei ohne Flügel. Eine Kandidatur „quer zu den Flügeln“ kündigte Habeck nun auch an. Eine, die das Gute aus Schleswig-Holstein und den Ländern nach Berlin trägt.

Was sie für sich beanspruchen: Regierungsverantwortung mit Visionen paaren, sparen, aber nicht stumpf. Die zentralen mühseligen grünen Projekte Energiewende und Agrarwende voranbringen. In der Partei frei über die Konflikte sprechen, was nun wirklich keine Berliner Spezialität zu sein scheint. Richtungsentscheidungen wie die Gerechtigkeitsfrage schiebt man dort lieber auf.

Donnerstagmittag. Vor der Tür zu Özdemirs Abgeordnetenbüro drängen sich Kameraleute, Journalisten warten auf ein Pressestatement zum Skandal-Bundeswehrgewehr G36. Drinnen sitzt der Grünen-Chef mit Blick auf den stumm geschalteten Fernseher. Bundestagskanal.

Cem Özdemir ist gut drauf, als sporne ihn die Kandidatur von Habeck an. „Wir wollen jetzt keine Personaldebatten führen“, sagt er zwar erst mal. Robert Habeck wolle das übrigens auch nicht. „Es gibt jetzt eine gute Bewerbung für den Fall einer Urwahl. Das ist alles.“ Er selbst werde sich nach dem Bundesparteitag im November entscheiden. Aber in dem eckigen, schwarzen Ledersessel vor dem deckenhohen Regal mit Sachbüchern und Bildbänden sitzt kein Zauderer, sondern ein gut gelaunter Mann mit dem Willen zur Macht.

Özdemir hat keine Probleme mit Medieninszenierungen. Die Koteletten ließ er sich in Begleitung von Bild.tv stutzen. Aus einer Hanfpflanze auf seiner Dachterrasse machte er eine Cannabis-Kampagne.

Wenn man es positiv wenden wollte, könnte man auch sagen: Özdemir ist anpassungsfähig, er lernt schnell dazu. Noch vor zwei Jahren warb der Parteichef im Bundestagswahlkampf für Steuererhöhungen, um marode Brücken zu sanieren und heruntergekommene Schulen zu stützen.

Heute sagt er, natürlich könne man ankündigen, „alle Steuern, die man mit Namen kennt erhöhen zu wollen“. Aber wenn man am Ende gar nichts bekomme, schaffe man nicht mehr Gerechtigkeit, etwa für Alleinerziehende, weil die Politik ohne einen stattfinde. Da sorge man doch lieber dafür, dass Google oder Ikea tatsächlich Steuern zahlten. Welche Politik linker sei? Er finde seine Politik progressiver, als eine die sage, „ich fordere alles und erreiche gar nichts“.

Manche legen ihm so was als Prinzipienlosigkeit aus.

Seine Partei habe 2013 sogar das Handwerk verschreckt, obwohl kleine Betriebe massiv von grüner Politik profitiert hätten, sagt Özdemir. „Das brauchen wir nicht noch mal. Da muss sich doch jeder bei uns fragen: Wie haben wir das hingekriegt? Das bereitet einem ja körperliche Schmerzen!“ Özdemir will in die Mitte. Zu den Unternehmern mit Herz für Öko-Richtlinien. Er hat nichts dagegen, wenn man ihm mit dem CDU-Kanzler Ludwig Erhard vergleicht.

„Es ist wichtig“, sagt er, „dass wir uns auf das Regieren vorbereiten, dass wir das bis in die Zehenspitzen hinein wollen.“ Die Grünen müssten „ausstrahlen, dass wir es uns zutrauen“.

Er strahlt es aus, Habeck tut es.

Irgendwie wirkt Özdemir heute versöhnlicher. Im vergangenen Sommer noch brüskierte er die halbe Partei mit der Bemerkung, man könne den Vormarsch von der IS-Terroristen nicht mit der „Yogamatte“ stoppen. Er selbst übrigens rollt in der Parteizentrale die Yogamatte aus, immer montags. An diesem Donnerstag sagt er, die Grünen müssten jetzt ihre Kräfte konzentrieren – „alle miteinander über die Flügel hinweg“. Vom Linksaußen Hans-Christian Ströbele bis zum konservativen Kretschmann. „Wenn wir das alles einsammeln, ist bei den nächsten Wahlen deutlich mehr drin als in den aktuellen Umfragen.“ Und wäre es nicht logisch, dass Özdemir dieses Projekt lenkt – als Miterfinder der ersten schwarz-grünen Pizza-Connection von CDU- und Grünen-Abgeordneten in Bonn?

Habeck muss Enttäuschte zurückgewinnen

Robert Habeck wird an diesem Samstag einen spannenden Landesparteitag in Lübeck erleben. Weil: So toll und einheitlich wie er sie sieht, haben die Nord-Grünen die Frage seiner Kandidatur eben nicht gemanagt. Im Frühjahr 2017 wird schließlich auch in Schleswig-Holstein gewählt. Die einen sorgten sich darum, wie sie ohne Habeck gewinnen sollen, die anderen, was aus ihnen selbst wird. Die Dritten wurden, weil man sie schon morgens beim Bäcker darauf ansprach, so aufgeschreckt, dass sie Habeck zwangen, herauszukommen.

Er muss nun eine Rede halten, die seine Kandidatur zu ihrer Kandidatur macht. Die die Enttäuschten zurückgewinnt. Und davon überzeugt, dass er bei einer Urwahlniederlage vielleicht nicht wieder Spitzenkandidat im Land werden kann. Aber sehr wohl entscheidend bleiben für die Frage, ob sie fünf weitere Regierungsjahre bekommen. Am Dienstag in der Fraktion ist ihm das laut Ohrenzeugen gelungen.

Robert Habeck habe „zweifellos das Zeug, auch im Bund vorne mit anzupacken“, sagt Cem Özdemir. Per Twitter hat er ihn schon zum „Klassetypen“ erklärt.

Berlin habe „fantastisch fair“ auf seinen Vorstoß reagiert, sagt Habeck, Özdemirs Reaktion sei „geradezu stilbildend“ gewesen. Auch ein Klassetyp.

Robert Habeck will erst mal sein Minister-Business weiter machen. Die Energiewende voranbringen, um unangenehme Hochspannungsleitungen in Bürgerverfahren streiten. Grüne Industriepolitik. „Ist das links oder realo oder fundi?“, fragt er. „Es funktioniert, und dann ist es richtig.“

Aber selbst das Problem des Ertrinkens von Schweinswalen in Stellnetzen ist andererseits so kompliziert und vielschichtig, dass es in fünf Regierungsjahren keine perfekte Lösung gibt. Höchstens einen Kompromiss.

Astrid Geisler, 40, ist taz-Parlamentskorrespondentin

Peter Unfried, 51, ist Chefreporter der taz