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Archiv-Artikel

Wie der 9. Mai zum „sakralen Feiertag“ wurde

NEUER PATRIOTISMUS Der Sieg über Nazi-Deutschland bleibt ein Moment größten Stolzes. Doch der Umgang mit der Geschichte ist voller Widersprüche – wie das Verhältnis zu den Deutschen heute

Irina Kosterina

■ wurde 1977 geboren. Sie hat Soziologie studiert und befasst sich in letzter Zeit vor allem mit Genderforschung. Beim Moskauer Büro der Heinrich Böll Stiftung ist sie als Programmdirektorin tätig.

AUS MOSKAU IRINA KOSTERINA

Russland ist einer neuen Welle des Patriotismusvirus erlegen. Nach der Krim-Annexion und den darauf folgenden wirtschaftlichen Sanktionen sind viele Russen von einem plötzlichen Anfall des Stolzes auf ihre Heimat erfasst worden – und sie fühlen sich zugleich vom Westen wegen dessen unberechtigten Ansprüchen gekränkt.

Die 30- bis 40-Jährigen, die noch vor Kurzem ihre Ferien in Deutschland und Italien verbrachten, entscheiden sich nun für einen Inlandsurlaub – und erinnern sich an ihre Datschen und ihr Angler-Know-how.

Laut Lewada, dem führenden Umfrageinstitut des Landes, standen im Februar dieses Jahres 71 Prozent der Bevölkerung Russlands negativ der EU gegenüber. 37 Prozent glaubten, dass Europa Russland als Konkurrenten betrachtet, 27 Prozent gar als Feind. Der Westen wird als Träger fremder Werte empfunden. Immer mehr Russen schwadronieren von einem messianischen Staat, von Russlands Spiritualität und von der Notwendigkeit, zu den Traditionen zurückzufinden. Es ist salonfähig geworden, Europa wüst zu beschimpfen („GAYropa“). Das Verhältnis zu den USA erinnert an die Zeiten des Kalten Krieges. „Wieso machen sie uns zu den Sündenböcken für alles? Warum zwingen sie uns ihren Willen auf? Sie haben doch nur Angst vor uns, sie beneiden uns!“

Genauso haben wir in meiner sowjetischen Schulzeit im Geschichtsunterricht über die Stellung Russlands in der Welt geredet. Damals fürchteten wir uns vor einem Atomkrieg. Und vor den allgegenwärtigen Spionen.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs wandten sich die Bewohner des neuen Russlands dem Westen dann mit Neugier zu. Viele, besonders die Jüngeren, reisten für kurze Zeit oder auch für immer aus. Deutschland gehörte zu den beliebten Zielen: Noch vor zehn Jahren betrachtete jeder vierte Russe Deutschland laut Lewada als engen Partner und Mitstreiter. Vor einem Jahr waren es nur noch 4 Prozent. Als wichtigste Partner werden heute in Russland Weißrussland, China und Kasachstan empfunden. Traurig, wenn man bedenkt, dass Angela Merkel noch vor Kurzem als beste und zuverlässigste Freundin von Wladimir Putin in Europa galt.

Für meine Generation war die Einstellung zu Deutschland höchst widersprüchlich: Einerseits mochten wir viele Eigenschaften, die als typisch deutsch galten – Fleiß, Akkuratesse, Pünktlichkeit. Deutsche Technik und Autos verkörperten Qualität. Deutsche Philosophie und Musik waren Allgemeingut. Ach was, selbst die beliebte Imperatorin und Aufklärerin Katharina die Große war Deutsche! Fast die Hälfte aller Schüler haben zu Sowjetzeiten Deutsch gelernt.

Andererseits setzte der Große Vaterländische Krieg die Begriffe „Deutsche“ und „Faschisten“ gleich. Eine Flut von Filmen, die während und nach dem Krieg entstanden, erzeugten und festigten im Sprachgebrauch unerschütterliche Stempel: Deutsche gleich Faschisten gleich Nazis. In den meisten russischen Familien werden Erinnerungen an den Krieg gepflegt – an die Großväter, die an der Front kämpften, und die Großmütter, die selbstlos im Hinterland schufteten.

Dabei kennen nur wenige die vielfältigen Programme, die von den Deutschen im Rahmen der „Philosophie der Sühne“ realisiert wurden, zum Beispiel die Freiwilligenprogramme. Deutschen Freiwilligen bin ich erstmals 2003 in Perm begegnet, wo sie russischen Veteranen halfen. Später erfuhr ich von Zivildienstleistenden, die zum Beispiel ehemaligen KZ-Häftlingen halfen. Nur wissen heute davon in Russland leider ganz Wenige. Ein großes Problem bleibt in Russland der Umgang mit der eigenen Geschichte. So ist das Verhältnis zum Totalitarismus und zu Stalin’schen Repressionen ambivalent. Viele loben Stalin offen, verehren ihn als „großen Führer“, der Russland zur wirtschaftlichen und politischen Größe verholfen habe. Kein Wunder, dass in den 90ern in Russland zahlreiche Nazi-Skinhead-Gruppen entstanden, die aus ihren Sympathien für Stalin und Hitler keinen Hehl machten, Subkulturkleidung mit Nazisymbolik getragen und offen arische Positionen bezogen haben.

Für ein Land, dessen Identität auf dem Sieg über Hitler-Deutschland fußt, erscheint mir die bloße Existenz solcher Gruppen als ungeheueres Missverständnis.

Ja, der Sieg der UdSSR 1945 wird von den Russen als ein bestimmendes Ereignis der jüngsten Geschichte angesehen, das die historische Mission Russlands begründet. Der 9. Mai [russisches Datum des Kriegsendes, siehe Text „Das Datum“ auf Seite 2] ist zu einem „sakralen“ Feiertag geworden. Immer mehr Menschen heften sich das orange-schwarze „Georg-Bändchen“ – seit 2006 Symbol des Sieges über Nazi-Deutschland – an die Kleidung oder ans Auto. Manche kleben an die Autoscheibe patriotische Slogans wie „Nach Berlin!“ – „Sieger-Opa von Europa“ – „Ich gedenke! Ich bin stolz!“

Das hatten wir schon alles durch. Sowjetische Geschichtsbücher aus meiner Jugendzeit waren nichts anderes als ausgeklügelte Waffen einer ungeheueren Propaganda. Dort war weder vom Nichtangriffspakt von Molotow und Ribbentrop die Rede noch von der Rolle der Alliierten beim Ausgang des Krieges. Das, was wir eingetrichtert bekamen, war die Geschichte, die durch und durch patriotisch und ideologisiert war. Eine alternative Version war kaum jemandem zugänglich.

Folge: Deutschland hat es nicht geschafft, ein enger Freund zu werden. Es wird wohl auch in der nächsten Zukunft ein Exfeind bleiben. Damit sich das Verhältnis ändert, bedarf es einer Wende in der Außenpolitik Russlands, und den Russen muss es wirtschaftlich besser gehen.

Um Deutschland lieb zu gewinnen, muss man es besser kennenlernen – durch Reisen, persönliche Kontakte und gemeinsame Projekte, in der Politik wie im Business und in der Kultur.

Aus dem Russischen Irina Serdyuk