: Prekäre Lebensräume
FILM Nikolaus Geyrhalters Dokumentationen sind vor allem geduldige Hinwendungen zu Menschen. Das Kino Arsenal würdigt ihn mit einer Werkschau
VON SILVIA HALLENSLEBEN
Mit einer theatralisch ausholenden Armbewegung lädt die rumänische Schiffersfrau das kleine Filmteam auf ihren Frachtkahn ein und erläutert dann bei einem Rundgang Örtlichkeiten und die nicht einfachen Umstände des dortigen Lebens: Eine offensichtlich einstudierte (und von der „Darstellerin“ ausgekostete) Szene aus Nikolaus Geyrhalters frühem Dokumentarfilm „Angeschwemmt“. Und eine Szene, die symptomatisch ist für die Methode des österreichischen Filmemachers, den in seinen Filmen vorkommenden Menschen als Darsteller ihrer selbst eine adäquate Bühne zu bieten, statt ihnen möglichst unauffällig mit der Kamera hinterherzulaufen.
Diese respektvolle Haltung, seine Sorgfalt und Geduld machen die Arbeiten des 1972 geborenen Regisseurs einzigartig. Doch als man die Idee einer Retrospektive bei der diesjährige Diagonale in Graz an ihn herantrug, war er zuerst gar nicht begeistert. Schon der Begriff klingt ja nach Abschluss eines Lebenswerks. Und hatte seines nicht gerade erst begonnen? Andererseits gibt es mit acht großen Kinofilmen und einigen Fernseharbeiten schon einiges vorzuweisen. Und als es im März dann wirklich zu der Grazer Retro kam, genossen Geyrhalter und sein langjähriger Cutter Wolfgang Widerhofer es bald sehr, die Arbeiten der letzten zwei Jahrzehnte noch einmal konzentriert mit aufmerksamem Publikum Revue passieren zu lassen, und revanchierten sich mit detaillierten Einsichten in ihr Filmemachen.
Jetzt dürfen wir uns freuen, weil beide zur Eröffnung einer Geyrhalter-Reihe auch ins Berliner Arsenal kommen und am Sonntag dort für ein Werkstattgespräch zur Verfügung stehen. Auch von den Filmen waren viele bisher nur kurz in Berlin zu sehen, eine besondere Rarität die anfänglich beschriebene, auf 16 Millimeter in Schwarz-Weiß gedrehte bemerkenswerte Debütarbeit „Angeschwemmt“, die neben dem Schifferpaar noch eine Handvoll anderer eigensinniger Figuren vorstellt, die an den Donauufern nahe der Stadt Wien ein Zuhause gefunden haben.
Gestrandete Menschen und/oder prekäre Lebensräume dominieren auch die anderen Filme: „Das Jahr nach Dayton“ gibt 1997 einigen Bewohnern des kriegszerstörten Exjugoslawiens ein menschliches Gesicht. In „Pripyat“ (1999) sind es die evakuierte Zone um Tschernobyl und diejenigen, die dort zwölf Jahre nach dem GAU trotz behördlichen Verbots wieder leben. Und in „Elsewhere“ (2001) reist das Filmteam zum Jahrtausendwechsel in einer Tour de Force um den Globus zu zwölf indigenen Völkern, deren Existenz zwischen zerstörter Natur und digitaler Postmoderne ohne jede romantische Verklärung gezeigt wird. Widerständige Menschen und Humor sind aber in jedem Fall dabei.
Das änderte sich bei den folgenden beiden Filmen, wo Geyrhalter sein Konzept gänzlich umgeworfen zu haben schien. So sind in dem dokumentarischen Monumentalfilm „Unser täglich Brot“ (2005) die Menschen nur noch Statisten in den imposant symmetrisch angelegten Breitwandtableaus aus der industrialisierten Nahrungsmittelproduktion. Und auch „Abendland“ (2011) formuliert die Kritik am Nach-Schengen-Europa zwar gänzlich ohne Kommentar, kommt dann mit seinen visuellen Standardsituationen von technischer Grenzüberwachung, Bierfestremmidemmi und automatisiertem Krematoriumsbetrieb dennoch recht plakativ daher.
Im Rückblick scheint es, als wären beide Filme vielleicht nur suchende Beiprodukte zu Geyrhalters ganz andersartiger, parallel entstandener Arbeit, die im diesjährigen Berlinale-Forum ihre Uraufführung hatte und nun die Retro eröffnet: Eine beeindruckende Langzeitdokumentation, für die der Filmemacher die Lebenswege von Menschen begleitet, die nach Schließung einer Textilfabrik im österreichischen Waldviertel ihre Arbeit verloren hatten und nun neue Wege finden müssen. „Über die Jahre“ beginnt als faszinierendes Stück Industriegeschichte und wird dann in drei Stunden und der beharrlichen Hinwendung zu seinen HeldInnen zu einem Epos über menschlichen Durchhaltewillen und Erfindungssinn, das sich kein bisschen an die herrschenden Verhältnisse anbiedert. Dabei sieht man auch, dass ein Lohnarbeitsplatz eben nicht das höchste Lebensziel ist.
■ 8.–20. 5., Arsenal, 8.–10. 5. in Anwesenheit von Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer, 10. 5., 17 Uhr, Werkstattgespräch mit Alejandro Bachmann