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Archiv-Artikel

Versponnene Psychothriller-Schmonzette

SIMULATION Gernot Grünewald bringt Fassbinders „Welt am Draht“ in Lübeck auf die Bühne. Es geht um künstliche Welten, Überwachung und die Frage, was wir heute schon über die Zukunft wissen

Optisch sollen die ZuschauerInnen den Boden ein wenig verlieren unter den Füßen. So wie die Figuren auf der Bühne

AUS LÜBECK TIM SCHOMACKER

Wir sehen eine Frau sich zurücklehnen, die Arme nach hinten angewinkelt, die Ellenbogen auf den Tresen gelehnt. Sie lächelt, ein wenig lasziv, vielleicht. In die Kamera. Das ist wichtig. Wir sehen eine Frau sich zurücklehnen, die Arme nach hinten angewinkelt. Sie lächelt, ein wenig lasziv. Das ist wichtig. Wo die Ellenbogen den Tresen berühren müssten – ist nichts. Der Körper hängt in der Luft, wirkt schief, irgendwie falsch. Da stimmt was nicht in diesem Bild. Das in seinem Double doch so gewöhnlich ausschaut. Gernot Grünewalds Bühnen-Adaption von Rainer Werner Fassbinders „Welt am Draht“ zeigt beide Bilder. Eines sieht echt aus – und ist es nicht. Eines, das scheinbar realistische auf einer bühnenbreiten Leinwand. Das anscheinend falsche in einem darunter positionierten, ebenfalls bühnenbreiten Plexiglaskasten.

Verschiedene Ebenen der geschachtelten Simulations-Szenarien, die Fassbinder und sein Drehbuchautor Fritz Müller-Scherz ihrerseits 1973 aus Daniel Galouyes Science-Fiction-Roman „Simulacron 3“ für ihren Fernseh-Zweiteiler geborgt hatten, sind hier gleichzeitig auf der Bühne der Lübecker Kammerspiele zu sehen. Auch das ist wichtig. Warum? Optisch sollen die Zuschauer den Boden ein wenig verlieren unter den Füßen. So wie die Figuren auf der Bühne, die sich Minute um Minute mehr anstrengen müssen, die eigene Wirklichkeit zusammenzuhalten und nicht die Kontrolle zu verlieren – oder den Verstand.

Dabei ist eigentlich alles ganz einfach. Es geht um Kosten- und Risikominimierung. Es geht um die Zukunft und um das, was man heute schon über sie wissen kann. Prognosen also. Wie man es anstellt, möglichst präzise Voraussagen zu treffen, ist eine technische Frage. Auswertungsmechanismen, Modelle, Big Data.

Als Fassbinder und Müller-Scherz Anfang der 1970er für den Fernsehspiel-Sendeplatz von WDR-Redakteur Peter Märthesheimer am Drehbuch zu „Welt am Draht“ schrieben, gingen sie noch davon aus, für eine Simulation müsse man Unmengen von Daten mühselig in große Rechenmaschinen eingeben. Da ist in den vergangenen 40 Jahren Entscheidendes passiert. Vor allem Verzahnung.

Heute wird hochgerechnet, was wir demnächst vielleicht kaufen, tun oder denken – während wir etwas suchen, kaufen oder tun. Und zwar ziemlich diesseits aller (ja immer noch irgendwie agententhrilligen) Überwachung durch NSA und andere. Ein Umstand, der sich in Grünewalds Adaption des Fassbinder-Lehrstücks aber nicht niederschlägt. Als habe die Faszination für die Idee von der Welt, die eine Simulation ihrer selbst baut, die so gut ist, dass die Simulierten sich ihres Simuliert-Seins bewusst werden, und der Respekt vor dem großen Namen Fassbinder den Machern irgendwie den Atem verschlagen.

Bei aller souverän ausgespielten bühnentechnischen Finesse vor allem in der Synchronisation von Videoeinsatz und Schauspiel kommt diese „Welt am Draht“ eigenartig werktreu daher, ja ein bisschen altmodisch. Fassbinders artifiziell verknappte Alltagssprache hört sich zwar schön an, trägt aber nicht unerheblich zu diesem Eindruck bei. Ein wenig mehr Gegenwart hätte gut getan.

So liegt etwas Ermüdendes in all den Bewegungen im bühnenfüllenden Plexiglaskäfig. Darin bewegen sich die sechs SchauspielerInnen auf eckigen wie vorgezeichneten Laufwegen. Sie sprechen, gehen, schlafen, fallen einander in die Arme oder übereinander her. Machen all das, was die hübsch versponnene Scifi-Psychothriller-Schmonzette von Fassbinder und Müller-Scherz eben vorgibt.

Erzählt wird die Geschichte der zunehmend agentengleichen Suche des technischen Angestellten Fred Stiller (Will Workmann ragt ihn in guten Momenten an Klaus Löwitsch grummelnde Fahrigkeit aus der TV-Fassung heran). Nachdem sein Vorgesetzter Vollmer beim Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung mysteriös zu Tode gekommen ist, setzt Stiller sich selbst auf die Spur. Er findet heraus, dass seine Welt, in der er für eine prognostische Computersimulation verantwortlich ist, nur Ergebnis einer Computersimulation ist, in der er der elektronische Klon des Entwicklers Fred Stiller ist. Vollmers Tochter Eva beamt sich in die Welt des Stiller-Klons, weil sie das Abbild besser lieben kann als das Original.

Dieser Original-Stiller wäre mal eine lohnende Figur gewesen. Erinnert es doch an den Schöpfer und Regisseur in Peter Weirs „Truman Show“. Oder an das internationale finanzstarke Abo-Publikum des Live-on-Camera-Gemetzels des hübschen Popcorn-Horrorstreifens „Cabin in the Woods“. Etwas zum Thema Gewalt und Entertainment hätte eine Brücke in Richtung Gegenwart schlagen können. Das bleibt aus und so wird das kompliziert eingerichtete, in der Mischung aus vorproduziertem Bild, Ton und Live-Spiel von den Akteuren freilich famos bediente Arrangement zur Sollbruchstelle von Grünewalds Inszenierung.

Diese „Welt am Draht“ lebt als Theaterereignis nämlich ganz wesentlich von einem einzigen und zweifellos faszinierenden Kniff: Während die sechs SchauspielerInnen im Glaskasten quasi pantomimisch agieren, zeigt sich das, was sie tun, im grellen Video strikt aus Stillers Perspektive. Man sieht etwa die Sekretärin Gloria Fromm auf der neutralen Bühne Luftkaffee in Lufttassen gießen, während es im weiträumigen stylischen Büro des Stiller-Videos aus der Designer-Tasse lecker dampft. Die SchauspielerInnen auf der Bühne sprechen und agieren hand- und lippensynchron mit ihren vorproduzierten Videodoubles. Es sei denn, es werden – Verwirrung oder Programmierfehler andeutend – gezielt Aussetzer und Verzögerungen eingesetzt. Ist Stiller nicht in der Szene, wird das grisselige Bild einer Überwachungskamera gesendet.

Für die Akteure bedeutet das ultradiszipliniertes Agieren auf abstrakten Bahnen, schon damit keiner aus dem Timing kommt. Denn das würde die (Video-)Maschine nie verzeihen. In der wiederum deutlich expressiver gespielt werden darf. Verschiedene Bildräume für verschiedene Welten. Technik, die begeistert, eben. Versteht man schnell, fasziniert auch eine ganze Weile, täuscht schlussendlich aber nicht darüber hinweg, dass der Abend sich um die Vergegenwärtigung herumdrückt. Was Beherztes anzufangen mit dem älteren Text. Für heute.

„Welt am Draht“: nächste Aufführungen am 10. Mai, 11. und 27. Juni, Theater Lübeck, Beckergrube 16