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Archiv-Artikel

Die Zahl, die Hitler besiegte

ÖKONOMIE Die Alliierten entwickelten im Zweiten Weltkrieg eine Zahl, die heute in aller Munde ist: das Bruttoinlandsprodukt. Mit Statistiken gewannen sie den Krieg

Vom Bruttosozial- zum Bruttoinlandsprodukt

■ Was es soll: Das Bruttosozialprodukt (BSP) erfasst sämtliche Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr in einem Land hergestellt werden. Brutto bedeutet, dass der Verschleiß, etwa bei Maschinen, nicht berücksichtigt wird. Werden diese Abschreibungen eingerechnet, spricht man vom Nettosozialprodukt.

■ BSP oder BIP? Das Bruttosozialprodukt geht von einem Inländerkonzept aus. Es wird also nur die Wertschöpfung berücksichtigt, die Menschen mit einem permanenten Wohnsitz in einem Land erzeugen. Dieses Konzept ist in einer globalisierten Welt zunehmend überholt. Deswegen stellte die Bundesrepublik 1997 auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um. Es berücksichtigt die gesamte Wertschöpfung, die im Inland hergestellt wird – egal von wem.

■ Wie es ermittelt wird: BSP und BIP können auf drei verschiedene Weisen ermittelt werden. Man kann bei Produktion/Entstehung ansetzen, bei Ausgaben/Verwendung oder bei Einkommen/Verteilung. In Deutschland werden nur Entstehung und Verwendung erhoben. Die Verteilung wird nicht erfasst, weil notwendige Daten über die Unternehmens- und Vermögenseinkünfte fehlen.

VON ULRIKE HERRMANN

Im Mai 1945 kommt es zu einer seltsamen Szene in einem Luxushotel in Luxemburg, das als US-Gefängnis für ehemalige Nazi-Größen dient. Ein junger Ökonom namens John Kenneth Galbraith will den hier internierten Hermann Göring interviewen. Die dringende Frage des Amerikaners: Warum hat Deutschland den Zweiten Weltkrieg verloren?

Aber Göring ist unpässlich. Apathisch und aufgeschwemmt lagert er auf einer eigens herbeigeschafften Matratze, weil die normalen Armeebetten viel zu schmal für seinen dicken Körper sind. Der einstige „Reichsmarschall“ leidet an Drogenentzug, seitdem die Amerikaner seinen gesamten Vorrat an Kodein beschlagnahmt haben.

Auch in den nächsten Tagen wird es nicht besser. Wie Galbraith später in seinen Lebenserinnerungen schreibt, „wusste Göring wenig über die Operationen der Luftwaffe, für die er nominell zuständig war, und über allgemeine Wirtschaftsfragen wusste er noch weniger“.

Also versucht es Galbraith mit anderen Nazi-Größen, die ebenfalls in Luxemburg festsitzen. Er interviewt den ehemaligen Außenminister Joachim von Ribbentrop, den einstigen Chef der Reichsbank, Walther Funk, und den Leiter der deutschen Arbeitsfront, Robert Ley. Aber brauchbares Material ist nicht zu erhalten, weil auch diese drei an Entzugserscheinungen leiden. Ihnen fehlt der Alkohol. Als Befragungsergebnis kann Galbraith nur festhalten, dass anscheinend fast alle Nazi-Größen „in den letzten Kriegsmonaten permanent betrunken waren“.

Galbraith wurde später ein weltbekannter Ökonom. Damals war er 36 Jahre alt. Er hatte in Harvard und Princeton gelehrt und war 1941 von der US-Regierung rekrutiert worden, um die amerikanische Wirtschaft auf den Militäreinsatz umzustellen. Die USA und Großbritannien hatten sofort verstanden, dass der Zweite Weltkrieg nur zu gewinnen sein würde, wenn man alle ökonomischen Reserven mobilisierte.

Die Alliierten waren daher zutiefst erstaunt, wie ahnungslos und inkompetent die obersten NS-Führer waren, die sie im Frühjahr 1945 verhörten. Bis dahin hatten Amerikaner und Briten angenommen, dass das Dritte Reich extrem effizient gewesen sei und seine Kriegswirtschaft perfekt geplant hätte. In Washington und London hatte man eigens Metaphern für diese deutsche Gründlichkeit entwickelt. Man stellte sich vor, dass das Dritte Reich wie eine „stramm gespannte Trommel“ funktioniere.

Erst kurz vor Kriegsende beschlich die Alliierten eine leise Ahnung, dass es mit der deutschen Effizienz nicht weit her sein konnte. Denn ihnen fiel ein deutsches Dokument in die Hände, das als „Geheime Reichssache“ eingestuft war. Der Titel klang noch nicht besonders aufregend: „Statistische Schnellberichte zur Kriegsproduktion“. Doch als sich Galbraith die Zahlen näher ansah, wurde ihm schockartig klar, dass man jahrelang die deutsche Kriegswirtschaft falsch eingeschätzt hatte.

In den Schnellberichten war nachzulesen, wie die deutsche Rüstungsproduktion permanent stieg – und auch durch die alliierten Luftangriffe nicht gelitten hatte. 1940 wurden durchschnittlich nur 136 Panzer pro Monat gebaut, 1941 waren es immerhin schon 316, und 1942 kam man bereits auf 516. Doch richtig aufwärts ging es erst, als das alliierte Bombardement längst eingesetzt hatte: 1943 waren es stattliche 1.005 Panzer pro Monat. Und 1944 legte die Produktion sogar auf monatlich 1.583 Panzer zu, obwohl schon große Teile Deutschlands in Trümmern lagen. Selbst Anfang 1945 wurden noch im Rekordtempo Panzer gebaut.

Dies hieß im Umkehrschluss: Die deutsche Wirtschaft hatte niemals am Produktionslimit gearbeitet, sodass selbst im Bombenhagel noch freie Reserven mobilisiert werden konnten. Das Dritte Reich hatte seine Aufrüstung nicht rational geplant, sondern lange komplett chaotisch agiert. Wie Galbraith später schrieb, war es „eine der größten, vielleicht die größte Fehlkalkulation des Krieges“, die deutsche Effizienz derart zu überschätzen.

Bei ihren Befragungen überraschte die Amerikaner vor allem, dass die Nationalsozialisten zwar viele Zahlen und Statistiken produziert hatten – diese Daten aber nicht zu gebrauchen waren. Es fehlte der Überblick, die Gesamterfassung der Wirtschaft. Erst im Nachhinein wurde den Alliierten deutlich, dass sie eine Kriegswaffe besaßen, die die Nazis nie entwickelt hatten: das Bruttosozialprodukt. Später wurde es zum Bruttoinlandsprodukt umgewandelt und ist bis heute die wichtigste Kennziffer in der Ökonomie (siehe auch Kasten und Interview).

Das Bruttosozialprodukt wurde während des Zweiten Weltkriegs parallel in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien erfunden von den berühmtesten Ökonomen ihrer Zeit. In England war John Maynard Keynes beteiligt, und in den USA Simon Kuznets, der später den Nobelpreis erhielt.

Empirisches Desinteresse

Ganz neu war die Idee zwar nicht; Ansätze hatte es schon im 17. Jahrhundert gegeben. Aber lange Zeit galt es als Zeitverschwendung, die Höhe der Wirtschaftsleistung oder das Volkseinkommen zu berechnen. Was sollte man mit einer solch abstrakten Zahl?

Erst mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 verschwand dieses empirische Desinteresse. Plötzlich kamen Fragen auf, welche die Ökonomen bis dahin nicht beantworten konnten: Wie viele Arbeitslose gab es eigentlich? Hatten die Menschen noch genug Geld, um zu überleben? Wie stark war die Produktion gesunken? Und in welchen Branchen?

Im Auftrag des US-Senats machte sich Kuznets an die Arbeit und berechnete das amerikanische Volkseinkommen für 1929 bis 1932. Ergebnis: Es war um die Hälfte gesunken. Die Industrie war sogar um 70 Prozent eingebrochen, die Baubranche um 80 Prozent. Nur der öffentliche Sektor hatte zugelegt.

Keynes kannte diese Berechnungen, hielt sie aber zunächst für uninteressant. Noch 1936 schrieb er, dass die Kalkulation des Volkseinkommens lediglich dazu diene, eine „historische Neugier zu befriedigen“. Doch als der Zweite Weltkrieg ausbrach, stellte sich eine Frage, die nur eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung beantworten kann: Wie viele Waffen, Flugzeuge und Panzer lassen sich produzieren, ohne dass die Bevölkerung hungern muss?

Um diese Antwort zu finden, nahm Keynes eine entscheidende Veränderung zu den bekannten Modellen vor: Er berechnete nicht mehr das Volkseinkommen, sondern verschob den Fokus auf die Produktion. Das moderne Bruttoinlandsprodukt (BIP) war geboren.

Die Wucht dieser konsequenten Planung war erstaunlich, wie Galbraith später notierte: Obwohl die Wirtschaftsleistung in Großbritannien 30 Prozent niedriger lag als im Deutschen Reich, produzierten die Briten schon 1941 mehr Rüstungsmaterial als Deutschland.

Dabei hatten die Briten bis zum Schluss gehofft, dass sich ein Krieg vermeiden lasse, während Hitler seit sechs Jahren den Waffengang vorbereitete. 1936 war sogar eigens ein „Vierjahresplan“ verabschiedet worden, den Göring beaufsichtigen sollte. Trotzdem startete das Dritte Reich völlig planlos in den Krieg. Wie konnte das geschehen?

Der Vierjahresplan klang anspruchsvoller, als er war. Er „versuchte gar nicht erst, ein umfassendes oder ausgewogenes Programm für die gesamte Wirtschaft zu sein“, resümiert der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, der die Geschichte der deutschen Statistik untersucht hat. Stattdessen handelte es sich nur um einzelne gigantische Investitionsprojekte, die die Autarkie voranbringen sollten. Deutschland konzentrierte sich auf Rohstoffe wie Öl, Gummi oder Stahl und errichtete dann so megalomanische Industrieanlagen wie die „Reichswerke Hermann Göring“ in Salzgitter.

Die Angst, dass die Rohstoffe knapp werden könnten, wurde zur Manie. Das führte zu einer Fehlentscheidung, die dann alle weiteren Versuche torpedieren sollte, die deutsche Kriegswirtschaft statistisch in den Griff zu bekommen: 1937 verwarf man die damals schon gängige Input-Output-Rechnung, die auf Marktpreisen beruhte und der Vorläufer des BIP war.

Mit dieser Input-Output-Rechnung hätte man leicht bestimmen können, wie viele Arbeiter, Rohstoffe und Energie benötigt wurden, um bestimmte Waffen oder Nahrungsmittel herzustellen. Denn man hätte immer mit derselben Einheit gerechnet: der Reichsmark.

Stattdessen versuchte man, den Fluss der Rohstoffe in physischen Mengen zu erheben. Am Ende waren 500 Statistiker damit beschäftigt, den Verbleib von 384 angeblich wichtigen Rohstoffen zu verfolgen. Eine komplette Überforderung.

Auch der umgekehrte Ansatz funktionierte nicht. Ursprünglich hatte man gehofft, dass die Rüstungsindustrie angeben könnte, welche Rohstoffe sie in welchen Mengen für welche Waffen benötigt. Doch dies hätte vorausgesetzt, dass Hitlers Kriegsstrategie bekannt gewesen wäre. Stattdessen schwankte der Führer permanent, ob er eher auf die Armee, die Flotte oder die Luftwaffe setzen sollte. Zudem gab es kein einheitliches System, wie man einzelne Bauteile erfassen sollte – und jedes Flugzeug bestand aus Tausenden von Zulieferprodukten.

Ein statistischer Witz

Die deutsche Rohstoffmethode war also ein statistischer Witz. Trotzdem ist nicht klar, ob die BIP-Berechnung im Dritten Reich überhaupt funktioniert hätte. Wie erwähnt beruht sie auf Marktpreisen – aber die Nationalsozialisten neigten dazu, willkürlich Preise festzusetzen. Zudem muss in allen staatlichen Stellen die gleiche Methode benutzt werden. Unter Hitler herrschte jedoch ein chaotisches Nebeneinander von Behörden, Parteiorganen sowie Grüppchen, die dem Führer besonders nahestanden.

In diesem Dschungel trugen auch die Statistiker ihre Kämpfe um Methoden, Geld und Status aus, sodass am Ende jeder wichtige Statistiker eigene Zahlenreihen hatte, die aber mit den anderen Daten nicht kompatibel waren. Vielleicht am wichtigsten: Das BIP setzt voraus, dass auch die Staatsausgaben einfließen. Doch Hitler wollte seine Absichten geheim halten.

Schon in Luxemburg war den Amerikanern gedämmert, dass die deutsche Kriegswirtschaft weit weniger effektiv war, als sie sich dies in aller Naivität vorgestellt hatten. Doch erst die Befragung von Albert Speer brachte den Durchbruch. Speer saß damals im Schloss Glücksburg fest. Er war ab 1942 Rüstungsminister gewesen. Er hatte sich auf seine Rolle als Kronzeuge weitsichtig vorbereitet, wie Galbraith süffisant bemerkte: „Das Gespräch wurde von zahlreichen Dokumenten aus seinem Ministerium unterstützt, die er mit Bedacht in einem Banksafe in Hamburg deponiert hatte.“

Speer zeichnete ein nationalsozialistisches Sittengemälde, das Galbraith schockierte, aber auch amüsierte. „Nur wenige der Nazigrößen waren technisch oder intellektuell den Herausforderungen eines Krieges gewachsen“, urteilte der Ökonom in seinen Memoiren. „Aber fast alle genossen ihre neue Macht und ihren neuen Reichtum mit ungenierter Gier.“

Speer habe sich bitter beklagt, dass die Gauleiter ihre Dienstboten nicht hatten aufgeben wollen, weswegen dann auch die normalen Bürger ihre Angestellten behalten durften. Im September 1944 habe es in Deutschland immer noch 1,3 Millionen Dienstboten gegeben. „Selbst 1943 wurden noch 50.000 Frauen aus der Ukraine importiert, um Hausarbeiten zu verrichten. Gleichzeitig wurden fast keine deutschen Frauen zur Fabrikarbeit verpflichtet. Speer, ein passionierter Leser des Life-Magazins, war zutiefst neidisch, weil die Fotos zeigten, dass die US-Rüstungsbetriebe viele weibliche Arbeitskräfte beschäftigten, die offenbar freudig bei der Sache waren.“ Dazu kam es in Deutschland erst 1944, als der „totale Krieg“ tatsächlich umgesetzt wurde.

Ein rational handelndes Regime hätte von Anfang an die gesamte Wirtschaft mobilisiert, um den Krieg zu gewinnen. Aber die Nazis waren nicht rational. Ihre Strategie hieß „Blitzkrieg“, ihre Ideologie Rassenwahn. Die Rüstung wurde nicht ökonomisch geplant, man beutete wahllos die eroberten Länder aus. Dieses Konzept scheiterte endgültig Anfang 1943, als die Schlacht um Stalingrad verloren ging. Aber da war es sowieso zu spät. Die Alliierten hatten den Krieg wirtschaftlich längst für sich entschieden.