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Archiv-Artikel

Am Limit mit 892 Euro im Monat

ARMUT Die Schere zwischen Menschen mit sehr viel und sehr wenig Geld werde größer, klagt der Paritätische Gesamtverband. Obwohl es so viele Jobs wie noch nie gibt

1,3 Millionen Menschen sind seit zehn Jahren auf Hartz IV

ROLF ROSENBROCK, SOZIALEXPERTE

AUS BERLIN SIMONE SCHMOLLACK

Wann ist man in Deutschland arm? Wenn man obdachlos ist und nichts zu essen hat? Oder bereits dann, wenn man zwar eine Wohnung und keinen leeren Kühlschrank hat, aber sein Busticket nicht bezahlen kann?

Darüber gehen die Meinungen dieser Tage auseinander. Der Paritätische Gesamtverband (PG) zeichnet in seinem Jahresgutachten, das die Wohlfahrtsorganisation am Dienstag vorstellte, das Bild einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Zwar gebe es so viele Erwerbstätige wie nie zuvor, nämlich über 42 Millionen. Dafür aber auch so viele Mini- und Teilzeitjobs sowie befristete Arbeitsverträge wie noch nie. 7,8 Millionen Menschen arbeiteten 2014 in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, sagte PG-Chef Rolf Rosenbrock. Solche Jobs seien alles andere als „gute Arbeit“. Zudem trugen die „nicht normalen“ Arbeitsverhältnisse dazu bei, dass die Kluft zwischen denen, die viel Geld haben, und denen, die gerade so über die Runden kommen, immer größer werde. Diese „Spaltung wird von Jahr zu Jahr tiefer“, klagte Rosenbrock.

An diesem Szenario eines sozial zerklüfteten Landes regt sich Kritik. So wirft Georg Cremer, Generalsekretär der Caritas, dem Paritätischen Gesamtverband Stimmungsmache und Skandalisierung vor. Es fördere „den sozialen Zusammenhalt nicht, wenn real bestehende Armutsprobleme in einer Weise skandalisiert werden, die nicht dem gerecht wird, was der Sozialstaat leistet“, schrieb Cremer vor Kurzem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Cremer möchte, dass klar unterschieden werde zwischen Armutsrisiko und tatsächlicher Armut. So zählten seiner Meinung nach beispielweise Studierende nicht per se zu den Armen. Junge Menschen in Ausbildung hätten zwar wenig Geld zur Verfügung, würden aber die Armutsstatistik verfälschen, weil sie in der Regel nur vorübergehend von wenig leben müssten.

Dem stimmte Rosenbrock am Dienstag zu: Gemessen an der „Gesamtgröße der Armut“ seien die Mittelschichtskinder, die von zu Hause ausgezogen sind, unbedeutend. Ungeachtet dessen aber müsse man „skandalöse Sachverhalte mit klaren Worten benennen“. Die Zahl jener Menschen nämlich, die weniger als 60 Prozent eines mittleren Einkommens zur Verfügung haben – das sind 892 Euro monatlich –, sei seit 2006 von 14 Prozent auf 15,5 Prozent im Jahr 2013 gestiegen. Das sind 1,2 Millionen Menschen. „Das ist viel“, sagte Rosenbrock.

Alarmierend sei ebenso die wachsende Zahl jener Menschen, die am stetig steigenden Wohlstand „immer weniger“ partizipierten. So bleibe die Zahl der Langzeitarbeitslosen stabil. Mehr als 1 Million Menschen seien länger als ein Jahr ohne Job. Und 1,3 Millionen Frauen und Männer seien seit zehn Jahren auf Hartz IV.