Ein polnisches Jahrhundertleben

HOMMAGE Wladyslaw Bartoszewski leistete Widerstand gegen die deutschen Besatzer, saß im stalinistischen Knast und war zweimal Außenminister eines freien Landes

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

„Ich schließe nur aus, dass ich noch Bischof werde“, ulkte Wladyslaw Bartoszewski im Jahr 2000, als er im Alter von 78 Jahren zum zweiten Mal Außenminister Polens wurde. Am Freitag starb der Historiker, Journalist und Politiker unerwartet nach einem Schwächeanfall.

Dabei hatte der 93-Jährige noch am letzten Wochenende vor dem Denkmal des Warschauer Ghettoaufstandes an den einsamen Kampf der Juden im April 1943 erinnert. Am Montag wollte der wie immer Rastlose bei den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen in Warschau das Schlusswort sprechen.

Bartoszewskis Leben steht wie kaum ein anderes für die Leiden, die diese Nation im 20. Jahrhundert erleiden musste: Er war Auschwitzhäftling, Teilnehmer am blutig niedergeschlagenen Warschauer Aufstand 1944, politischer Gefangener im Kommunismus, langjähriger Bürgerrechtler mit wiederkehrenden Berufsverboten, 1981 als Mitglied der Gewerkschafts- und Freiheitsbewegung Solidarnosc erneut Insasse eines Internierungslagers, schließlich Emigrant in Deutschland.

Doch der stets zu einem Witz aufgelegte Bartoszewski setzte sich zeit seines Lebens immer auch für Freiheit, Demokratie und moralische Anständigkeit ein. Ein besonderes Anliegen waren ihm die deutsch-polnische Aussöhnung und die polnisch-israelische Verständigung.

1989, nach der politischen Wende in Polen, kehrte der Journalist und Gastprofessor der Universitäten München und Eichstätt nach Warschau zurück und bot Tadeusz Mazowiecki, dem ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Polens seit 1945, seine Dienste an. Erst jetzt, im Alter von 67 Jahren, begann seine politische Karriere.

Zunächst wurde Bartoszewski Botschafter in Österreich, 1995 dann für kurze Zeit Außenminister, später Senatsmitglied, im Jahre 2000 erneut Außenminister und ab 2007 bis zu seinem Tod Staatssekretär und Regierungsbeauftragter für die deutsch-polnischen und die polnisch-israelischen Beziehungen.

Geboren wurde Bartoszewski 1922 in Warschau als Sohn eines Bankangestellten und einer Buchhalterin. Als im September 1939 der Krieg ausbrach, meldete sich der Abiturient beim Roten Kreuz, um als Sanitäter zu helfen. Ein Jahr später wurde er bei einer Razzia der Nazis zufällig verhaftet und als Brillenträger und damit „Intellektueller“ ins Konzentrationslager Auschwitz verschleppt.

Zu den vorrangigen Kriegszielen Hitlers und Stalins, die 1939 Polen gemeinsam überfallen und aufgeilt hatten, gehörte die Ausrottung der polnischen Intelligenz. Bevor die Nazis Auschwitz-Birkenau zu einem Vernichtungslager für Juden ausbauten, pferchten sie im sogenannten Stammlager Auschwitz neben Widerstandskämpfern vor allem Intellektuelle ein.

Dank der Bemühungen des polnischen Roten Kreuzes kam der junge Sanitäter nach knapp sieben Monaten frei. Er schloss sich der polnischen Widerstandsbewegung an, begann an der Warschauer Untergrunduniversität Polonistik zu studieren und gehörte 1942 zu den Gründern des polnisch-jüdischen „Rats für Judenhilfe“ mit dem Decknamen „Zegota“.

Falsche Papiere für Juden

Der Rat hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Juden falsche Papiere zu besorgen und ihnen zur Flucht zu verhelfen. Nach der „Großen Aktion“ im Warschauer Ghetto 1943, als von den einst 350.000 Warschauer Juden nur noch rund 60.000 lebten, begann Polens konservative Exilregierung in London, die in der besetzten Heimat aktive Zegota finanziell zu unterstützen.

Bartoszewski, der selbst aus Auschwitz befreit worden war, sah dies als seine moralische Verpflichtung an: „Es gibt doch keinen Zufall im Leben. Ich bin ein gläubiger Katholik. Wenn ich lebe, dann bedeutet dies, dass ich anderen helfen muss.“ Zudem war er als Kind am Rande des jüdischen Viertels in Warschau aufgewachsen und hatte von seinen jüdischen Spielkameraden sogar ein paar Brocken Jiddisch gelernt. Obwohl für Widerstand , Sabotage und Hilfe für Juden die Todesstrafe drohte, riskierte Bartoszewski immer wieder sein Leben, um andere zu retten.

Wie viele Juden dank Zegota den Holocaust überlebt haben, ist nicht bekannt. Doch die vom polnischen Untergrundstaat finanzierte Organisation zu ihrer Rettung gilt als einzigartig im gesamten deutsch besetzten Europa. 1965 zeichnete die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem Bartoszewski mit der Medaille „Gerechter unter den Völkern“ aus. 1991 erhielt er zum Dank für seinen unermüdlichen Einsatz auch nach dem Krieg die Ehrenbürgerschaft Israels.

Während des Warschauer Aufstandes 1944 übernahm der damals 22-jährige Soldat der „Armia Krajowa“ (Heimatarmee) nachrichtendienstliche Aufgaben, half Inhaftierten und schrieb als Journalist für Untergrundzeitschriften. „Ich wurde also Berufswiderständler“, schrieb er später in seinem Buch „Es lohnt sich anständig zu sein“. Für seine mutige Unterstützung der Kämpfenden erhielt er später das Silberne Verdienstkreuz und das Tapferkeitskreuz Polens.

Nach dem Krieg verschoben die Alliierten die polnischen Staatsgrenzen nach Westen, sodass Stalin seine mit Hitler ausgehandelte Kriegsbeute – Ostpolen – behalten konnte. Bartoszewski war nicht bereit, das von Moskau abhängige neue Regime in seiner Heimat anzuerkennen. Er wurde erneut verhaftet, diesmal von polnischen Kommunisten. Erst 1954 kam er wieder frei. Nach der Entstalinisierung der folgenden Jahre wurde er vom Vorwurf der Spionage freigesprochen und vollständig rehabilitiert.

Einsatz für die deutsch-polnische Versöhnung

Nach seiner Freilassung begann Bartoszewski als Zeithistoriker zu arbeiten und gab zunächst den Band „Der ist aus meinem Vaterland“ über die Hilfsorganisation Zegota heraus. Es folgten mehrere Chroniken und Dokumentarbände zur Zeit der deutschen Besatzung und insbesondere zum Warschauer Aufstand. Den Erinnerungsband „Es lohnt sich anständig zu sein“ publizierte er mehrmals in immer neuen Überarbeitungen.

Obwohl Bartoszewski sich seit dem deutsch-polnischen Bischofs-Briefwechsel von 1965 mit dem berühmten Satz der Polen: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ für die deutsch-polnische Versöhnung einsetzte, veröffentlichte er erst 2005 ein Buch, das sich ausschließlich mit diesem Thema beschäftigte: „Und reiß uns den Hass aus der Seele“. 2010 folgte das Buch „Über Deutsche und Polen. Erinnerungen, Prognosen, Hoffnungen“ und kurz vor seinem Tod – 2015 – der Erinnerungsband „Wladyslaw Bartoszewski: Mein Auschwitz“ mitsamt einer kleinen Anthologie von wichtigen Texten über das deutsche Konzentrationslager in Polen.

1995, als Bundeskanzler Kohl Polens damaligen Präsidenten nicht zum 50. Jahrestag des Kriegsendes nach Berlin einladen wollte, sprach Bartoszewski wenige Tage vor dem 8. Mai vor den Mitgliedern des Bundesrates und des Bundestages in Bonn. Das unwürdige Einladungsspektakel erwähnte er mit keinem Wort. Doch seine große Versöhnungsrede ging in die Geschichte ein, bedauerte er doch als polnischer Überlebender des KZ Auschwitz die individuellen Schicksale von Deutschen, die nach dem Krieg durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat verloren hatten.

Dass der in rasantem Tempo und gern auch lautstark sprechende Bartoszewski nicht nur Freunde hatte, versteht sich von selbst. Insbesondere in seinen letzten Lebensjahren waren ihm Buhrufe und Pfiffe rechter Gruppen sicher, wenn er an Gedenkfeiern für die Toten des Warschauer Aufstandes teilnahm. Auch seine oft selbstgerecht wirkenden Urteile über Andersdenkende – „Spinner, Pseudodiplomaten, Esel“ – oder Interviewabsagen gegenüber linksliberalen Journalisten – „Keine Perlen vor die Säue“ – verletzten viele seiner polnischen Landsleute.

Dennoch überwiegt nach seinem Tod der Respekt für einen „großen Polen und Patrioten“, wie ihn der amtierende EU-Ratspräsident Donald Tusk nannte. Bundeskanzlerin Angela Merkel schreib in einem Beileidstelegramm an Polens Premier Ewa Kopacz: „Wir verneigen uns vor dem Lebenswerk und der Humanität dieses großen Menschen. Bis zu seinem letzten Atemzug hat er sein Leben in den Dienst von uns allen gestellt.“