Verdichtetes Leuchten

KUNST Im ausgehenden 19. Jahrhundert machten experimentierfreudige französische Künstler den Punkt zu ihrem malerischen Prinzip. Die additive Farbmischung der Pointillisten wirkt bis heute nach – bis hin zur Digitalfotografie

VON BEATE SEEL

Erst viele Punkte ergeben ein Bild. Wir nehmen unsere Umwelt über das Auge und das Gehirn wahr; die Netzhaut wandelt die Lichtinformationen in elektrische Impulse um, die dann über den Sehnerv in das Sehzentrum weitergeleitet werden. Ergänzt durch früher gespeicherte Informationen entsteht hier das Bild unserer Umgebung. Die Gesetze der Optik, die bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert bekannt waren, beeinflussten auch die zeitgenössische Kunst, als sich experimentierfreudige Maler daran machten, ihre Arbeit auf eine „wissenschaftliche“ Grundlage zu stellen.

Wer schon einmal in einer Ausstellung Werke impressionistischer Meister wie Cezanne oder Monet gesehen hat, wird aus der Entfernung ein schönes Gemälde wahrgenommen haben, weil das Auge die Farben zu einem einheitlichen Bild zusammenzieht. Doch von nahem betrachtet, „zerfällt“ es in die von dem Maler nebeneinandergesetzten Farben. Das Bild wird also erst im Auge des Betrachters „fertig“. Gegen Ende dieser Periode, auch Spät- oder Neoimpressionismus (1880–1910) genannt, entstand in Frankreich eine Kunstrichtung, die diese Vorgehensweise buchstäblich auf den Punkt brachte: der Divisionismus, abgeleitet von „diviser“ (trennen), der in Deutschland eher unter dem Begriff des Pointillismus bekannt ist und auf das Wort „point“, also Punkt, zurückgeht.

Anstatt die Farben auf der Palette anzumischen und dann auf die Leinwand aufzutragen, zerlegten die Pointillisten ihr Motiv in viele kleine Pünktchen oder winzige Pinselstriche, die sie dicht nebeneinandersetzten. Sie malten im Atelier mit reinen Pigmenten und Komplementärkontrasten, also Farben, die sich auf dem Farbkreis gegenüberliegen, direkt auf den Malgrund, um die Leuchtkraft der Töne zu steigern. Dem Auge des Betrachters überließen sie es, die additive Funktion des „Mischens“ zu übernehmen. Aus einer gewissen Entfernung gesehen, sind die Punkte dann nicht mehr zu erkennen, das Geflimmer des Sonnenlichts etwa stellt sich dann wieder her.

Zu den berühmtesten Malern des Pointillismus gehören Georges Seurat (1859–1891) und, nach dessen frühem Tod im Alter von 31 Jahren, Paul Signac (1863–1935). Spontan war diese Malweise nicht. Sie folgte festen Regeln, bei denen die Linienführung und der Wechsel zwischen warmen und kalten Farben eine wichtige Rolle spielten. Das Bild von Seurat, „Sonntagnachmittag auf der Isle de la Jatte“ aus dem Jahr 1885, eines der bekanntesten des Malers, wirkt in seinem Format von 206 x 306 Zentimetern fast wie ein klassisches Gemälde oder ein Wandteppich; die Figuren, Linien und Schatten haben etwas Konstruiertes, Starres, aber eben auch Perfektes. Doch die Motive waren jene der Zeit: beispielsweise Arbeiter oder Familien der Bourgeoisie in ihrer Freizeit bei Seurat oder das Meer, Segelschiffe und Hafenszenen bei Signac. Dabei trat der Gegenstand des Bildes manchmal hinter der Explosion der Farbe zurück. An diesem Punkt setzt auch die Kritik an den Pointillisten an: Wenn die Methode selbst zur Aussage des Bildes wird, ist schnell eine Grenze erreicht; die „Impression“ bleibt auf der Strecke.

Kunstgeschichtlich betrachtet steht der Pointillismus zwischen dem Impressionismus des 19. und dem Fauvismus und Kubismus des 20. Jahrhunderts. Dies gilt vor allem für die Kubisten, bei denen die Bedeutung der Form jene der Farbe ersetzen sollte. Letztlich trug der Pointillismus mit seinen neuen Erkenntnissen bei der Bearbeitung der Fläche und seinen dekorativen Elementen mit zur Entwicklung der abstrakten Kunst bei.

Der Pointillismus mit seinem „wissenschaftlichen“ Ansatz und der additiven Farbmischung lässt sich als malerische Vorwegnahme des Röhren-Farbfernsehers sehen. Schaute man damals genau hin, konnte man die einzelnen Punkte auf dem Bildschirm erkennen, die sich im Auge des Betrachters aus der Entfernung erst zum Ganzen zusammenfügten. Der pointillistischen Technik begegnen wir bis heute in der Digitalfotografie.