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Archiv-Artikel

„Ich hatte Lust auf ein Wunder“

KAMPF Russland stagniert nicht, es bewegt sich rückwärts, sagt der Künstler Artjom Loskutow. Ein Gespräch über die Protestform, die er erfand, über Ironie, Moskaus Zustand und den Traum von einer sibirischen Republik

Artjom Loskutow

■ 28, ist Aktionskünstler und Aktivist aus Nowosibirsk. Mit dem Dokumentarfilm „Tauschen Erdöl gegen nichts!“ setzte er sich für eine größere Autonomie Sibiriens ein. Sein Name wird vor allem mit den „Monstrationen“ verbunden, einer Protestform, die Loskutow vor elf Jahren initiierte. In Nowosibirsk kamen am vergangenen 1. Mai 5.000 Menschen zu Monstrationen zusammen. Bislang fanden diese in 15 sibirischen Städten, in Moskau und auf der Krim statt.

GESPRÄCH BARBARA KERNECK FOTO PIERO CHIUSSI

Monstra – was? In Nowosibirsk, der drittgrößten Stadt Russlands, findet an jedem 1. Mai etwas statt, was für eine Mischung aus Demonstration und Monstranz steht: eine Monstration. Wochenlang schneidern Teilnehmer Kostüme, manche ziehen dann als Pyramide, Kugel oder Würfel durch die Straßen – mit Parolen, die eigentlich keiner braucht. „Katzen züchten hält gesund!“, steht auf Transparenten, „Tanja, weine nicht!“. Seit elf Jahren, in mehr als fünfzehn Städten Sibiriens. Zuletzt auch in Moskau und auf der Krim. Warum?

taz: Artjom Loskutow, Sie sind Künstler, gerade zum Ausstellungsbesuch in Berlin, und haben die Monstrationen erfunden, als Sie 18 waren. Wozu?

Artjom Loskutow: Ganz einfach: So etwas wie lebendige Demonstrationen kannten wir seit Jahrzehnten nicht.

Ihre dagegen sieht aus wie ein Familienspaziergang mit Fahrrädern und Haustieren.

Man muss sich bloß die traditionellen Maikundgebungen anschauen: Die verwandeln Protest in ein sinnloses Ritual. Die Teilnehmer tragen ihre Plakate wie religiöse Symbole herum, um damit einer Form Genüge zu tun. Egal, was darauf steht – „Mai der Arbeiter!“ zum Beispiel, oder „Mehr Urlaub!“ –, sie laden sie hinterher wieder auf ihren Lastwagen und vergessen sie bis zum nächsten Jahr. Ich sehe nicht, dass sie irgendwelche Veränderungen wollen. Weder diese Leute noch die Regierung interessiert, was auf ihren Plakaten steht.

Sie aber stellen erst gar keine Forderungen.

Weil Forderungen in unserem Land sinnlos sind. Wie sollten wir uns denn dabei fühlen? Ob ich hier in Kreuzberg mit einem Plakat eine Forderung an Putin stelle oder in Nowosibirsk – ihm ist es hier wie dort egal. Und abtreten wird er ohnehin nicht. Über einen Dialog zwischen uns und den Machthabern dürfen wir uns keine Illusionen machen. Mit unseren Monstrationen sagen wir: Wir sind hier. Ihr gefallt uns nicht. Aber wir verstecken uns nicht. Auf einem unserer Transparente stand der Satz: „Zeigt uns nicht, wo’s langgeht, sonst zeigen wir’s euch!“ Das signalisieren die Monstrationen: Wir sind viele. Wir leben nicht so, wie’s euch gefällt. Wir brauchen nichts von euch. Aber werdet nicht übergriffig! Und versucht nicht, uns unsichtbar zu machen.

Ob dieses Selbstbewusstsein alle Teilnehmer haben?

Sie erscheinen mit verschiedensten eigenen Parolen. Aber bei der Aufstellung achten wir als Organisatoren auf eine gewisse Balance, sodass nicht gerade ganz vorne Sprüche kommen, mit denen sich Leute weiter hinten vielleicht nicht identifizieren – und sich dann fortschleichen.

Wehen denn auch Regenbogenfahnen, als Symbol der Lesben- und Schwulenbewegung?

Vor Kurzem ist eine aufgetaucht. Aber ein Grüppchen örtlicher Ultrarechter hat sich fürchterlich drüber aufgeregt und den Trägern beim nächsten Mal aufgelauert, um sie zu überfallen. Die Träger hatten da schon verstanden, dass es zu gefährlich für sie werden könnte. Beim nächsten Mal fehlte die Fahne.

Warum ging das ausgerechnet in Nowosibirsk los?

Bei den Diskussionen unter den Künstlern hier in Berlin ist mir aufgefallen, dass meine Landsleute aus den westlicheren Städten, vor allem aus Moskau und St. Petersburg, alles furchtbar ernst angehen. Die Sibirier haben mehr Selbstironie. Das kommt von den Lebensumständen. Wenn du ganz weit draußen lebst, in Kälte und Dunkelheit, fragst du dich irgendwann: Warum sitzen wir eigentlich gerade hier, warum rennen wir ständig in Pelzmänteln rum? Stimmt mit uns was nicht? Wenn du dieser Frage ernsthaft nachgehst, bist du verloren. Da hilft es, sich über sich selbst lustig zu machen.

Rührt der Hang zur Freigeisterei vielleicht daher, dass Nowosibirsk in der Sowjetunion der stärkste Standort für Forschung und Wissenschaft war? Oder auch daher, dass noch ein Großteil der Sibirier von ehemaligen Häftlingen abstammt?

Ja, selbst Siedler, die freiwillig dorthin kamen, suchten ja die Freiheit oder waren vor Unterdrückung geflohen. Später dann, als die Sowjetunion junge Leute für bestimmte Großprojekte anwarb, versprachen die sich davon ein anderes Leben als im europäischen Russland: Wohnungen, hohe Gehälter.

Wie steht es heute um die Freiheit, was ist für Künstler in Russland gefährlich?

Wenn du als Museumsdirektor oder -direktorin arbeitest, kannst du deine Arbeit verlieren, falls die Ausstellungen deinen Arbeitgebern nicht gefallen. Dasselbe gilt für Kuratorinnen und Kuratoren. So etwas ist bei uns in letzter Zeit häufiger passiert.

Aber ist das für die Betroffenen wirklich gefährlich?

Seit einiger Zeit gibt es das Gesetz, dem zufolge quasi jeder wegen „Extremismus“ angeklagt werden kann, der öffentlich Missstände anprangert. Wenn du mit unliebsamen Parolen auftrittst, kann man dich schon mal zwecks Feststellung deiner Personalien festnehmen. Besonders wenn du das auf dem Roten Platz machst.

Und in kleineren Städten?

Da ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie dich wegen Extremismus anklagen. Die Vertreter der Staatssicherheitsorgane dort freuen sich doch: Ha, endlich haben wir auch mal einen Extremisten!

Sie saßen selbst mehrmals in Haft.

Mir wurde gefährlich, dass sich meine Beziehungen zur Polizei in deren Augen falsch entwickelten. Zuerst fragten sie, welche ausländischen Staaten mich finanzieren. Nun ja, ich habe einen gewissen Aktionismus an den Tag gelegt, dafür muss einen ja jemand bezahlen! Sie wollten alles über mich wissen, und ich wollte nichts über mich erzählen. Vor allem nichts über meine Freunde. Sie sagten: Entweder du freundest dich mit uns an und erzählst uns, was ihr plant. Oder wir erheben Anklage gegen dich.

Die erhoben Anklage?

Ich hatte Glück, dass mein Fall international Aufsehen erregte. Sonst säße ich vielleicht noch heute. Da kann ein Mensch wirklich reinrasseln. In Moskau sitzen heute noch Leute ein, die im Jahr 2012 zum 6. Mai anlässlich Putins Amtseinführung zum ersten Mal auf einer Demo waren.

Hat man auch bei den Monstrationen Leute festgenommen?

Die ersten drei Male, zwecks Feststellung der Personalien. Dann haben wir gelernt, ein Meeting anzumelden. In dieser Hinsicht läuft es bei uns sogar besser als in Moskau. Wenn denen dort eine Demo oder ein Meeting untersagt wird, lassen sie sofort die Arme sinken und konstatieren einfach: Verboten! Bei uns gibt es da zähe Kämpfe. Wir versuchen über die Presse und die öffentliche Meinung Druck auszuüben. Wir zeigen, wie dämlich sie ihre Absagen begründen. Letztens damit, dass angeblich ein neunstündiger Stafettenlauf durch die beantragten Straßen geplant war. Neun Stunden! Wo gibt’s denn so was?

Dann sind die Monstrationen ein Erfolg?

Man könnte sagen, dass wir klasse sind und eine Art Kampf führen, indem wir den öffentlichen Raum nicht den Politikern überlassen. Aber ich bin da skeptisch. Ich wünsche mir mehr. Es ist gut, dass es die Monstrationen gibt, aber sie verwandeln unser Land nicht so schnell, wie ich es gern hätte.

Früher mal haben Sie Ihre politische Haltung noch wie die eines buddhistischen Mönches charakterisiert: „Ich stehe am Ufer des Flusses“, haben Sie gesagt, „und warte, bis der Leichnam meines Feindes vorbeischwimmt.“

Ja, aber ich stehe da schon seit ein paar Jahren, und es kommt nichts geschwommen. Der Leichnam ist sehr komplex. Einer seiner Körperteile sind auch führende Kreise in der russisch-orthodoxen Kirche. Als die Monstrationen begannen, hatten wir den Eindruck, Russland befände sich in einer großen Stagnation. Aber jetzt stagniert es nicht mehr, sondern bewegt sich immer weiter rückwärts. Natürlich ändert sich die Situation grundsätzlich dadurch, dass wir jetzt in einen Krieg mit einem anderen Land verwickelt sind.

Sie haben im vergangenen Jahr auch eine politische Demonstration initiiert, den „Marsch für die Föderalisierung Sibiriens“. Ein Spruch dabei: „Wir haben Moskau lang genug gefüttert.“ Was meinten Sie damit?

Ich hatte einen Dokumentarfilm gedreht, „Tauschen Erdöl gegen nichts!“. Bei den Vorführungen habe ich lange diskutiert, mit Wissenschaftlern, Ingenieuren. Zum Beispiel über die Frage, warum in Sibirien die Infrastruktur so schlecht ist: Da gibt es miserable Straßen, auf denen ein Bus nach dem anderen verunglückt. Dabei hat sich herausgestellt, dass sich Moskau offenbar gar nicht wünscht, dass die sibirischen Städte untereinander gut vernetzt sind. Sie sollen sich nur jede einzeln mit Moskau verbinden. So können die dort besser unser Erdöl exportieren. Und wir bekommen dafür nicht mal das nötige Geld für unsere Infrastruktur.

Also wollten Sie Moskau nicht länger mit Erdöl füttern?

Weil man in Moskau jetzt so laut die Föderalisierung der Ukraine propagiert, haben wir uns gedacht: Föderalisierung, das muss etwas Gutes sein. Warum sollen wir das in Russland nicht auch haben? Wir wären gern ein eigenes Subjekt der Föderation, zum Beispiel eine sibirische Republik, die ihre eigenen Ressourcen verwaltet. Anders als die ukrainischen Separatisten würden wir damit sogar im Rahmen der Verfassung unseres Landes bleiben.

Gibt es einen solchen Marsch dieses Jahr wieder, für eine sibirische Republik etwa?

Nein, das ist jetzt ein gefährliches Thema! Seit vergangenem Jahr existiert ein Gesetz, dem zufolge jegliche Propaganda für die Abspaltung von Teilen der Russischen Föderation mit Haft bis zu fünf Jahren geahndet werden kann. Jetzt ist es sogar gefährlich, darüber zu reden. Auch wenn wir uns strikt im Rahmen der Verfassung bewegen, könnte man das stark missverstehen.

Wie und wovon leben Sie jetzt?

Meine Freundin und ich wohnen zusammen, jetzt mehr in Moskau. Ich habe dort Jobs auf Honorarbasis in allerhand Softwareprojekten. Aber das ist für mich reiner Broterwerb.

Haben Sie in letzter Zeit noch Kunst gemacht?

Ein Plastikbärchen als weinende Ikone. Ich hatte gerade Lust auf ein Wunder. Als Wunder gelten in der russischen Welt nämlich Ikonen, die eine milchige oder ölige Flüssigkeit absondern. Meistens wird so ein Wunder einem nahe liegenden Feiertag zugeschrieben.

Und bei Ihrem Plastikbärchen?

„Ob ich in Kreuzberg eine Forderung an Putin stelle oder in Nowosibirsk – ihm ist es hier wie dort egal“

War es der Gründonnerstag. Und diese wundersamen Ikonen gelten ja für gewöhnlich als nicht von Menschenhand geschaffen, deshalb haben wir uns erst mal nicht als Urheber geoutet. Das war, wie jetzt, zur schönen Frühlingszeit, 2011. Später reproduzierte ich das Ganze noch einmal als Gemälde. Ich ließ über den Bären von oben Farbschlieren herablaufen. Und das habe ich dann ins Internet gestellt.

Das gab Ärger?

Es hat mir über zwei Jahre lang immer neue Verfahren wegen irgendwelcher Bagatellvergehen eingebracht. Von mir aus war das mit keiner Strategie verbunden.

Wie nehmen Sie mittlerweile die Stimmung in Moskau wahr?

Ich beobachte dort den atmosphärischen Druck. Er ist stark. Eine Weile habe ich für den einzigen alternativen Fernsehsender Doschd gearbeitet, der ist jetzt praktisch geschlossen. Danach habe ich für das relativ linke Onlinejournal Russkaja Planeta gearbeitet, das uns aber – nach der Geschichte mit der Krim – stark darin beschnitt, worüber wir schreiben durften. Ich habe das Gefühl, dass Russland keine richtigen Journalisten mehr braucht. Ich bin absolut kein Panikmacher. Aber ich fürchte, dass es mit unserem Land noch weiter den Berg runtergeht.

Tun Ihre persönlichen Hoffnungen das auch?

Ein besonderer Schock war für mich – wie banal das auch klingen mag – die Ermordung von Boris Nemzow. Er war keine so herausragende Gestalt der Opposition mehr, dass man ihm so unerbittliche Gegner zugetraut hätte. Ich wohne nicht weit vom Tatort und hatte mich bislang in der Gegend immer sicher gefühlt.

Bis zu jenem Abend?

An jenem Abend war ich gerade unterwegs, um meine Freundin abzuholen. Die feierte mit Kollegen gerade, dass sie alle gemeinsam entlassen wurden. Die Entlassung hatte keine politischen Gründe, sie alle hatten bis dahin unter einem relativ liberalen Beamten bei der Moskauer Kulturbehörde gedient. Dann kam dessen Nachfolger – und der brachte seine eigenen Leute mit.

Haben Sie Angst?

Es wird für mich immer schwerer, eine Beschäftigung zu finden, die meinen Fähigkeiten entspricht und bei der ich mich andererseits für das, was ich mache, nicht zu schämen brauche. Ich lebe jetzt auf den 1. Mai in Nowosibirsk hin, ich weiß nicht, was danach für mich kommt.

Wie schwierig ist es diesmal, eine Monstration zu planen?

Vorläufig geben wir der Obrigkeit dort in Nowosibirsk noch die Gelegenheit, darüber nachzudenken. Wir haben jetzt einen neuen Oberbürgermeister von der Kommunistischen Partei …

die offiziell die Rolle der Opposition spielt.

Er hat gefragt, in welcher Form die Demonstration stattfinden soll. Wir haben geantwortet: „In der traditionellen.“ „Ja“, hat er gesagt: „Die Traditionen unserer Stadt müssen wir achten.“ Dann hat er uns vorgeschlagen, diesmal in einer Kolonne mit einigen kleinen, putintreuen Gewerkschaften zusammen zu marschieren. Ich habe geantwortet: „Warum nicht?“ Schließlich sind ihre Parolen genau solcher Nonsens wie unsere. Außerdem darf diese Gruppe immer ein paar von den Rednern stellen, die auf der Tribüne auftreten. Wir hätten auch was zu sagen!

Barbara Kerneck ist Autorin. Sie arbeitete von 1988 bis 2000 als freie Korrespondentin in Moskau ■ Piero Chiussi, 39, ist Fotograf und will schon immer Russisch lernen