Entscheidung für den Mann aus der Kunst

THEATER Was lange beraunt und diskutiert wurde, ist nun amtlich: Frank Castorf geht, Chris Dercon wird neuer Intendant der Berliner Volksbühne

In Berlin kann Dercon zeigen, ob ihm die Etablierung besserer Strukturen tatsächlich am Herzen liegt

Heftig wurde in den letzten Wochen über die Neubesetzung der Leitung der Berliner Volksbühne diskutiert. Das Schweigen der Kulturverwaltung, die mangelnde Bereitschaft, öffentlich und laut über die Neubesetzung nachzudenken, befeuerte die Debatte, seit als Gerücht durchgesickert war, Chris Dercon, zurzeit Leiter der Tate Modern in London, könnte den Posten erhalten. Immer mehr Intendanten großer Ensembletheater und zuletzt noch Jürgen Flimm, Intendant der Staatsoper in Berlin, hatten gegen diesen Vorschlag protestiert. Mit der Entscheidung für den Kunstmann sahen sie den Geist des Ensembletheaters in große Gefahr gebracht.

Gestern wurde den Vermutungen endlich ein Ende gemacht. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, lud für den heutigen Nachmittag ein, um über den designierten Intendanten Chris Dercon und die künftigen Entwicklungen der Volksbühne zu informieren.

Als Chris Dercon 2011 Abschied vom Haus der Kunst in München nahm, das er acht Jahre lang mit Erfolg geleitet hatte, lief zur Abschiedsfeier eine Projektion typischer Dercon-Sätze auf einer Museumswand, darunter: „Bitte nicht paniken, ich habe alles under control.“ Solch selbstgewisse Haltung wird er sicher brauchen, wenn er 2017 in Berlin beginnen soll. Denn der Wind, der gegen ihn entfacht wird, ist noch eisig.

Zu den Künstlern, für die er sich mit Ausstellungen einsetzte, gehörten Ai Weiwei, Paul McCarthy und Christoph Schlingensief. Man hat den 1958 geborenen Flamen in München und an der Tate Modern in London als einen Kurator erlebt, der mit großem Interesse die Verbindungen zwischen bildender Kunst, Theater und Performance verfolgt und seine Häuser dafür geöffnet hat. Dercon, der neben Kunstgeschichte auch Theaterwissenschaft und Filmtheorie studiert hat, ist durch die lange Liste seiner Stationen in der Kunstwelt gut vernetzt.

Im Unbehagen, das in den Protesten gegen ihn mitklang, schwang stets der Verdacht mit, er werde zu viel auf Events setzen, auf überall tourende Festivalprodukte, und dem Neoliberalismus in die Hände spielen. Da ist es interessant zu lesen, wie er als Leiter der Tate Modern die dortige Gehaltsstruktur kritisiert hat, in der viele Mitarbeiter des Museums von ihrer Arbeit nicht leben können und auf weitere Jobs angewiesen sind. Das ist auch in der Szene der freien Theaterprojekte ein großes Problem: Und sollte er an der Volksbühne tatsächlich ein Programm fahren, das sich neben dem Ensemblebetrieb auch der Projektarbeit öffnet, wird er zeigen können, ob ihm da Etablierung von besseren Strukturen tatsächlich am Herzen liegt.

Was einer Volksbühne unter Dercons Leitung höchst wahrscheinlich verloren zu gehen droht, ist ihr Status als Grabungsstätte tief in die deutsche Geschichte hinein, die Castorf’sche Versessenheit auf die Sümpfe des Verdrängten und der Blick nach Osten.

Es war in den letzten Tagen schon verblüffend zu lesen, wie heftig plötzlich gerade dieser Markenkern als wichtiges Berliner, wenn nicht gar deutsches Kulturgut beschworen wurde; stand diese Liebeserklärung an Castorf doch in einem merkwürdigen Kontrast zu einer Haltung, die ihm das Durchwaten der immer wieder gleichen Landschaften vorgeworfen hatte. Insofern hat der Krach um Dercon zumindest Castorf noch mal ein schönes Lob gebracht.KATRIN BETTINA MÜLLER