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Archiv-Artikel

Schöne Worte, harte Taten

GIPFEL Aus einer Vorlage zur künftigen Flüchtlingspolitik wird klar: Die EU will sich weiter abschotten

AUS BRÜSSEL ERIC BONSE

„Die Situation im Mittelmeer ist eine Tragödie.“ So steht es gleich zu Beginn der Vorlage für den EU-Flüchtlingsgipfel, der am Donnerstagnachmittag in Brüssel begann. Doch wenn nicht alles täuscht, wird es in dieser Tragödie mit zuletzt mindestens 1.000 Toten weder Retter noch Helden geben.

Denn Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die anderen 27 Staats- und Regierungschefs der EU reden zwar gern von Humanität. Die Rettung von Menschenleben stehe „an allererster Stelle“, sagte Merkel bei ihrer Ankunft in Brüssel. Es gehe „um die Akzeptanz der EU, ihrer Werte weltweit“, fügte sie hinzu.

Doch den schönen Worten werden wohl keine entsprechenden Taten folgen. Die EU-Staaten wollen zunächst gerade einmal 5.000 Flüchtlinge aufnehmen. Auch das steht in dem Gipfelpapier. Die überwältigende Mehrheit der Boat People – 2014 kamen 150.000, im laufenden Jahr rechnet Italien sogar mit 200.000 – wird demnach wohl weiter zurückgeschickt.

Und statt großflächiger Seenotrettung, wie unter der abgelaufenen italienischen Aktion „Mare Nostrum“, ist nur eine Ausweitung des flächenmäßig begrenzten aktuellen „Triton“-Einsatzes geplant. Auch die deutsche Marine will sich daran beteiligen. Zwei Fregatten sowie ein Einsatzgruppenversorger stünden Gewehr bei Fuß, hieß es in Berlin.

Das trifft sich gut, denn in dem für den Gipfel vorbereiteten Zehn-Punkte-Plan werden auch Militäreinsätze gegen Schlepper nicht mehr ausgeschlossen. „Wir werden jetzt handeln: Europa erklärt den Schmugglern den Krieg“, sagte Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos.

Allerdings dürfte das noch ein wenig dauern, denn die EU braucht für einen Militäreinsatz vor der Küste Tunesiens und Libyens ein UN-Mandat. Die vom Westen nicht anerkannte islamistische Übergangsregierung in Libyen hat schon Widerstand gegen diesen Plan angekündigt.

„Man kann nicht einfach entscheiden, solche Aktionen durchzuführen, man muss mit uns sprechen“, sagte der „Außenminister“ des in Tripolis ansässigen Kabinetts, Mohammed al-Ghirani, der Times of Malta. Doch zunächst mussten die EU-Chefs miteinander sprechen. Da gab es nämlich großen Gesprächsbedarf.

Wenn es um die Flüchtlingspolitik geht, gibt es keine gemeinsame Linie. Vielmehr hat bisher jedes EU-Land seine eigene, egoistische Position. Deutschland und Schweden, die bereits viele Migranten aufnehmen, fordern eine gerechtere Verteilung. Davon wollen jedoch Dänemark und Tschechien nichts wissen – sie sind gegen jede Form der Quote.

Auch Großbritannien, das sich derzeit im von EU-Bashing dominierten Wahlkampf befindet, möchte keine Migranten aufnehmen. Umso lauter fordert London eine aktivere EU-Außenpolitik, um in Europas Hinterhof Afrika für Ordnung zu sorgen. Damit könnte auch Paris gut leben, das sich zudem für ein hartes Durchgreifen gegen Schlepper ausgesprochen hat.

Dass die EU 2008 einmal eine Mittelmeerunion gegründet hat, um die Zusammenarbeit mit Nordafrika zu organisieren und Katastrophen wie derzeit zu verhindern, haben offenbar alle EU-Chefs vergessen. Selbst Frankreichs Staatspräsident François Hollande erwähnt sie nicht mehr – dabei war es eine französische Initiative. Verdrängt wird auch, dass derzeit viel mehr Hilfe nach Osteuropa und in die Ukraine fließt als in den Krisenbogen am Mittelmeer.

Noch heute wollen die meisten baltischen und osteuropäischen Staaten mit den Problemen im Süden nichts zu tun haben. Vor dem EU-Gipfel duckten sie sich weg; nur Ratspräsident Donald Tusk, früher Regierungschef in Polen, fand deutliche Worte. Alle 28 EU-Staaten sollten „sehr konkreten Maßnahmen zustimmen“, forderte er. Es gehe nun darum, „einige nationale Interessen für das Allgemeinwohl zu opfern“.

Doch so richtig ernst scheint auch Tusk das nicht zu meinen. Denn von einer Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen war im Gipfelentwurf keine Rede. Vielmehr soll es ein „freiwilliges Pilotprojekt“ für 5.000 Neuankömmlinge geben. Der Fokus liegt eindeutig auf Abschreckung und Abschottung – für den Grenzschutz ist sogar eine Verdoppelung der Mittel geplant.

Im Europaparlament kam das gar nicht gut an. „Die Verantwortlichen in der EU haben anscheinend nur eines im Kopf: Flüchtlinge sollen mit allen Mitteln davon abgehalten werden, nach Europa zu kommen“, kritisierte die grüne Europaabgeordnete Ska Keller. „Will die EU jetzt einen Krieg gegen die Flüchtlinge führen?“, fragte sie empört.

Auch Sozialdemokraten und Liberale sind entsetzt. Von „Augenwischerei“ und „hohler Symbolpolitik“ spricht der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff. Im Europaparlament kursierte ein Aufruf des österreichischen Grünen Michel Reimon, notfalls das EU-Budget zu blockieren, wenn die Flüchtlingshilfe nicht aufgestockt werde. Auch Abgeordnete aus Merkels konservativer EVP-Fraktion sollen unterschrieben haben.