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Archiv-Artikel

WIR:HIER

Kapitel 24

Als Herr Clausen von seinem Zettel, auf dem er sich Stichwörter zur Situation von Herrn Demir notiert hatte, wieder aufblickte, war es zu spät. Die Schüler hatten seine kurze Unsicherheit bereits bemerkt, sie besaßen feine Sensoren, die jedes Zögern registrierten. Denn was sogar der Unbegabteste im Laufe seiner Schulzeit lernte, war, Hemmungen und Nervosität bei Lehrern zu erkennen und sogleich unbarmherzig auszunutzen. In dieser Hinsicht saßen in der Aula des Luise-Berkowitz-Gymnasiums ausschließlich Fachkräfte mit mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung. Und sie legten sofort los.

„Herr Clausen, das stimmt voll nicht. Mein Vater ist auch Türke, und früher hatte er die deutsche Staatsangehörigkeit, aber dann haben sie ihm den deutschen Pass wieder abgenommen. Er musste sich entscheiden, welche Nationalität er haben wollte. Der Vater von Cem lügt!“

Herr Clausen blätterte weiter in seinen Unterlagen.

„Alparslan, hier wird erstens nicht unterbrochen, auch Sie haben den Schulverhaltenskodex unterschrieben, und nach dem lassen wir uns ausreden, ohne dazwischenzuschreien. Und zweitens ist Ihr Vater vermutlich älter“, er blickte noch mal auf seinen Zettel, „oder jünger als der von Cem. Bis Anfang 2000 – legen Sie mich jetzt bloß nicht auf die genaue Jahreszahl fest – wurde das anders gehandhabt.“

„Aber mein Bruder Mehmet musste auch sagen, ob er Türke oder Deutscher sein wollte. Das stimmt nämlich nur für Jugendliche, dass sie zwei Pässe haben dürfen.“

„Ja, das ist so weit richtig. Beziehungsweise es war richtig. Bis zum 23. Lebensjahr mussten die Türken in Deutschland sich für eine Staatsbürgerschaft entscheiden, und wer den Stichtag verpasst hatte, wurde automatisch ausgebürgert. Also von Deutschland. Für euch gilt das wiederum nicht mehr. 2014 ist eine neue Regelung in Kraft getreten: Ihr könnt beide Pässe behalten.“

„Das ist voll ungerecht. Mein Bruder scheißt jetzt auf den deutschen Pass. Er ist stolz, Türke zu sein.“

„Das ist alles – wie soll ich sagen – sehr kompliziert. Aber ich biete an, in der nächsten Woche eine Doppelstunde Staatsbürgerkunde in Ihren PW-Leistungskursen dazwischenzuschieben.“

Eine hübsche Idee, aber es war einfach zu spät. Keine Rettung für Herrn Clausen.

„Ich hab auch zwei Pässe, muss ich jetzt auch bezahlen?“

„Du bist Araber, das ist was anderes.“

„Na und, da musst du mich nicht gleich duzen, Herr Clausen.“

„Ich hab überhaupt keinen Pass. Sollen die Türken doch froh sein, wenn sie zwei haben.“

Clausen unternahm einen letzten Versuch. „Ja, Staatenlose gibt es auch, das ist aber eine ganz andere Fragestellung.“

„Ich bin nicht staatenlos, meine Eltern sind Statusdeutsche.“

„Wieder ein anderes Thema.“

Schweiß perlte Clausen auf Stirn und Oberlippe. Er schnappte mit der Zunge nach der Feuchtigkeit, und als wäre das noch nicht peinlich genug, wurde sein Kopf langsam, aber immer sichtbarer rot. Sehr rot. Herr Sonderberg sprang ihm endlich zu Hilfe.

„Meine Damen und Herren, ich muss Sie schon sehr bitten! Das deutsche Staatsrecht ist ein überaus komplexes Thema, das wir sicher nicht hier in diesem Rahmen umfassend klären können. Statusdeutsche kamen hauptsächlich aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, der Begriff ist seit 1999 hinfällig.“

Aber sagen Sie, Herr Sonderberg, wie ist es denn bei Palästinensern? Warum haben wir keinen Pass, der in Israel gültig ist? Ich bin Deutsche, ich habe seit Jahren einen deutschen Ausweis, aber mit voll eingeschränkten Rechten in Israel. Die erkennen den deutschen Pass von uns nicht an. Wir haben eine spezielle ID im Ausweis, an der sieht man, dass wir Palästinenser sind. Einmal Palästinenser, immer Palästinenser, so denken die Israelis – und die Deutschen auch. Ich darf nicht mal den gleichen Grenzübergang benutzen wie ein echter Deutscher. Es dauert drei Tage, bis wir in Ramallah sind. Für echte Deutsche nur einen.“

„Na, die müssen erst gucken, ob du einen Bombengürtel trägst.“

„Faizah, wir reden hier nicht über die Situation von anderen Staatsangehörigen, das ist sicher auch interessant und für Sie zu Recht empörend, aber nicht das Thema von heute.“

„In Israel gehen alle zur Armee. Auch die Frauen. Alle! Und sind stolz darauf.“

„Ey, die Ausländer haben es viel besser als wir Deutsche. Die können sich aussuchen, was sie sein wollen.“

„Na und? Bist du selber schuld, Kartoffel!“

„Warum will Cems Vater nicht seinem Land dienen, frag ich? Ich weiß es: Er ist nicht stolz auf seine Nation. Er scheißt auf die türkische Fahne. Ich finde es richtig, dass er im Knast sitzt.“

Herr Sonderberg sah auf die Uhr. „Es klingelt gleich. Der Vortrag über den schulischen Umgang mit Mobbing von Frau März fällt aus. Aber Sie alle“, er sah ernsthaft enttäuscht und wütend auf die Schüler, „haben das in Ihren Schulkodex-Vereinbarungen, die jedes Jahr neu unterschrieben werden, wie Sie wissen. Und da steht unter Punkt 3: An dieser Schule wird nicht gemobbt. Zum Mobbing gehört auch, Gerüchte in Umlauf zu bringen. Lesen Sie, meine Damen und Herren, das würde niemandem schaden! Und jetzt: raus mit Ihnen!“ Er zeigte zum Ausgang. Dort stand Frau Rutschke, an den Türrahmen geleht, mit einem schadenfrohen Lächeln im Gesicht.

„Das ist voll ungerecht. Mein Bruder scheißt jetzt auf den deutschen Pass. Er ist stolz, Türke zu sein“

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de