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Archiv-Artikel

KUNST

schaut sich in den Galerien von Berlin um

NOEMI MOLITOR

Auf Jahrmärkten gibt es diese Budenbetreiber, die ganz lässig auf fahrende Karusselle aufspringen. Ich beobachte diesen Schwerkraftspagat so gerne, weil hier zwei völlig verschiedene Körper gegeneinander laufen, aber den gleichen Rhythmus entwickeln. Im Hamburger Bahnhof hat Michael Beutler als Teil seiner Rauminstallation „Moby Dick“ einen riesigen und dabei ganz leicht wirkenden Drehkörper aus kalkweiß angepinseltem Wachspapier und Segeltau gebaut, der quasi umgekehrt funktioniert. Nicht der Boden dreht sich unter den Passagieren, sondern das aufgehängte Rondell um sie herum. Um Platz zu nehmen, muss man den richtigen Moment abpassen. Wenn die Öffnung vorbeirauscht: reinspringen! Die Verschiebung der Dreh-Erwartung erzeugt einen Schwindeleffekt, der sich so irritierend anfühlt wie die ersten Schritte auf einer Rolltreppe, die wider Erwarten nicht läuft. Also erst mal hinsetzen und warten, bis sich die Sinne daran gewöhnt haben. Dabei bestimmen eigentlich die BesucherInnen, wie schnell oder langsam sich das Karussell bewegt. Die Holz-Papier-Konstruktion dreht sich nämlich in einem Wasserbecken um sich selbst – solange sie jemand anschiebt. Rund um dieses Zentrum hat Beutler verheißungsvolle Miniaturkonstruktionen aus Papier verteilt. Dazu Bau- und Bastelmaterialien, die im Laufe der Ausstellung in jeder ersten Woche des Monats zu weiteren Bauwerken verzimmert werden. Ein theatralisches Aufführen des Kunstmach-Prozesses. Ziemlich gemein wird armen KünstlerInnen mit all den Papierstapeln, Hölzern und Aluminiumbergen vor der Nase herumgewedelt, von denen sie nur träumen können. Aber Beutler behandelt seine Materialhaufen so liebevoll, arrangiert sie so ansprechend, dass man sich mit ihm über seine Spielwiese einfach freuen muss (Di.–Fr. 10–18, Do. 10–20, Sa.–So. 11–18 Uhr, Invalidenstr. 50–51).

Papier, Aluminium und Segeltau benutzt auch Simon Deppierraz in seiner Ausstellung „Planarita è Utopia“ (Die Ebenheit ist eine Utopie) und spielt in der Galerie cubus-m mit Anziehungskräften. Die Skulptur „Allatrina“ zum Beispiel, scheinbar aus starren Stahlstangen, wird zum Mobile, sobald sie ein Lufthauch trifft. Arbeiten aus Filzstift hingegen widersetzen sich der ebenen, zweidimensionalen Fläche des Papiers und irritieren den Gleichgewichtssinn – durch Strichsetzung und Linienführung verschiedener Komplementärkontrast-Kombinationen erzeugt Deppierraz Wackelbilder voller Überlagerungen, Auslassungen und Verdichtungen, die nicht nur optisch den Eindruck erhöhter Herzfrequenz vermitteln (Mi.–Fr. 14–19, Sa. 11–19 Uhr, Pohlstr. 75).