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Archiv-Artikel

Einspruch!

In Bremen startete ein kleiner Schneeball, jetzt rollt eine Lawine: Schon 1.400 Menschen in der ganzen Republick haben den von Bremer Köpfen verfassten „Einspruch gegen Hartz IV“ bereits unterzeichnet. Die taz dokumentiert den vollständigen Text

Arbeitslosigkeit und (öffentliche) Armut sind kein Naturgesetz. Politische Entscheidungen werden von Menschen getroffen und sind veränderbar

rbeitslosigkeit ist ein Schlüsselproblem unseres Landes. Die Folgen für Erwerbslose und ihre Kinder, für Städte und Gemeinwesen, für die sozialen Sicherungssysteme und die Wirtschaft sind bekannt.

Die seit über 25 Jahren anhaltende Massenerwerbslosigkeit kann weder durch „Zauberei“ noch durch eine einfache „Aktivierung“ der Betroffenen überwunden werden. Sie hat strukturelle Ursachen: Erwerbsarbeit für Männer und Frauen, für Junge und Ältere wird es zu den bisher üblichen Bedingungen auch in Zukunft nicht für alle geben.

Wir müssen uns entscheiden:

Entweder wir setzen auf eine tatsächlich „moderne“, flexible, die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen und der Betriebe aufnehmende Neuverteilung von Arbeit, Zeit und Einkommen und damit auf „Vollbeschäftigung zu neuen Bedingungen“ oder wir geben den Anspruch auf, allen Menschen eine faire Teilhabe an Erwerbsarbeit zu ermöglichen, durch die sie ihren Lebensunterhalt eigenständig erwerben können.

Mit den Gesetzentwürfen von Bundesregierung und Opposition werden – auch wenn dies nicht beabsichtigt sein mag – Weichen in Richtung der zweiten Option gestellt. Denn abgesehen von finanzpolitischen Gegensätzen und „handwerklichen“ Unterschieden scheint das herrschende Politikverständnis in der Grundphilosophie übereinzustimmen: Das entscheidende Problem wird nicht im Mangel an Arbeitsplätzen und deren fairer Verteilung, sondern bei den Arbeitslosen selbst verortet.

Anstatt die wirklichen Probleme in den Mittelpunkt der Diskussion und des Handelns zu rücken, wird in den Medien die „Faulenzerdebatte“ angeheizt, werden Opfer zu Tätern gemacht. Damit wird die Spaltung unserer Gesellschaft weiter vertieft. Gerechtigkeitsempfinden und Demokratie werden nachhaltig beschädigt.

Eine solche Politik löst die Probleme nicht, sondern droht sie weiter zu verschärfen:

Anstatt auf die hohe Qualifikation der Menschen in unserem Land zu bauen, droht als Folge der „neuen Zumutbarkeit“ eine Spirale der De- Qualifizierung. Das schädigt die betroffenen Menschen – und den Standort Deutschland.

Anstatt die Binnennachfrage zu stützen, wird durch Verkürzung der Anspruchsdauer und Absenkung der Lohnersatzleistungen die Kaufkraft reduziert und damit die Wirtschaft weiter geschwächt.

Anstatt Schwarzarbeit überflüssig zu machen, werden Menschen mangels Alternativen oder durch die „Bereinigung der Statistik“ in kriminalisierte Grauzonen gedrängt.

Anstatt Eigeninitiative und Flexibilität zu unterstützen, untergräbt die Furcht vor Arbeitslosigkeit und sozialer Deklassierung die Bereitschaft bei Beschäftigten und Arbeitsuchenden, die Risiken von Jobwechsel und Neuorientierungen einzugehen.

Anstatt neue Freiheiten und Perspektiven zu eröffnen, sehen sich viele (erwerbs-)arbeitslose Menschen in ihren realen Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt und durch überschießende Sanktionsandrohungen entmündigt.

Dass Frauen zu den am stärksten betroffenen Verlierer/innen dieser Politik gehören, widerspricht allen arbeitsmarktpolitischen Erkenntnissen, den Bedarfen der Wirtschaft und den Versprechungen aller Parteien auf Gleichberechtigung.

Es ist die „Mitte der Gesellschaft“, es sind auch und gerade die (derzeit) Beschäftigten, die Hartz IV betrifft: Sie geraten immer weiter unter ökonomischen und psychischen Druck. Der Abbau von gesellschaftlicher Fairness und sozialem Ausgleich am Arbeitsmarkt macht auch ihnen Angst. Damit wächst der Druck, gesellschaftlich notwendige, für das europäische Modell unverzichtbare Arbeits- und Sozialstandards aufzugeben.

Wir erheben Einspruch gegen diese rückwärtsgerichtete „Reform“. Arbeitslosigkeit und (öffentliche) Armut sind kein Naturgesetz. Politische Entscheidungen werden von Menschen getroffen und sind veränderbar. Wir fordern die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die Vertreterinnen und Vertreter der Kommunen, die Interessenvertretungen der Beschäftigten und die Kirchen auf, dieser politischen Fehlentwicklung entgegenzutreten und sich für eine zukunftsfähige, sozial gerechte Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik einzusetzen.

Wir fordern „Kurze Vollzeit für alle“. Wir fordern eine systematische Verknüpfung von örtlicher Infrastruktur- und Investitionspolitik mit geförderter sozialversicherungspflichtiger Arbeit. Wir fordern eine Qualifizierungspolitik, die allen offen steht und „Lebenslanges Lernen“ systematisch unterstützt.

Katja Barloschky, Prof. Dr. Rudolph Bauer, Peter Beier, Martin Bertzbach, Prof. Dr. Adelheid Biesecker, Prof. Dr. Jürgen Blandow, Ulrike Hauffe, Ulrich Ipach, Mechtild Jansen, Sabine Kallmann, Berndt Korten, Dr. Barbara Loer, Martin Lühr, Mario Nitsche, PD Dr. Eva Quante-Brandt, Petra Reinhardt, Dieter Reinken, Dr. Anne Röhm, Gerhard Scholz, Jürgen Seippel, Prof. Dr. Helmut Spitzley, Dr. Axel Troost, Prof. Dr. Achim Trube, Claus Wittgrefe