Was die moderne Seele alles quält

SCHAUSPIEL Sebastian Hartmann inszeniert in Stuttgart den Roman „Im Stein“ von Clemens Meyer als albtraumhaftes Kultur-Mash-up im Filmformat

„Eckstein, Eckstein – alles muss versteckt sein“, wimmert Sandra Gerling als minderjährige Prostituierte mit zu viel Schminke im Gesicht und zu wenig Kleidung am Körper.

Alles ist versteckt in Sebastian Hartmanns Inszenierung „Im Stein“. Auf der Bühne in Stuttgart dreht sich ein riesiger Würfel, der alle Schauspieler in sich begraben hat. Was sich im Inneren abspielt, wird live als Großaufnahme auf die Seiten des Würfels projiziert und gleicht dem Blick durch ein Mikroskop auf einen Mikrokosmos.

Auch Autor Clemens Meyer zoomt in der gleichnamigen Romanvorlage tief ins Innenleben seiner Figuren hinein. Monologe von Prostituierten, Zuhältern und Freiern reihen sich ohne logische Stringenz aneinander und erzeugen einen vielschichtigen, forschenden Einblick in das Milieu der Prostitution. Gleichzeitig erzählt dieses Buch von Menschen, die an derselben Welt leiden und trotzdem in individueller Einsamkeit gefangen bleiben.

Sebastian Hartmann komponiert daraus ein vierstündiges cineastisches Klagegedicht, das den Zuschauer mal brutal mitreißt oder betäubt im Bilder- und Musikstrudel untergehen lässt. Die lineare Erzählung weicht dabei einer albtraumhafter Poesie.

Gerade lacht man noch über Holger Stockhaus als prolligen Moderator einer Late-Night-Radiosendung, während im selben Augenblick Manja Kuhl als Import-Prostituierte brutal verprügelt wird. Kunstblut fließt wie in Splatterfilmen. Ein Vater sucht seine Tochter, die ein anderer Szenen zuvor auf dem Drogenstrich getroffen haben will. Stimmen überlagern sich wie in einem schizophrenen Gehirn. Licht und Kamerawinkel wechseln unablässig und sind so gekonnt gewählt, dass sich im Würfel unendlich viele Räume und Genres zu verbergen scheinen. Weichgezeichnete Softpornoästhetik schiebt sich zwischen überblendete Bildausschnitte von historischen Gemälden. Bunter Nebel wabert zu Sinéad O’Connor. Opernarien liegen über der Nahaufnahme von Horst Kotterbas Gesicht, der aus einem Albtraum erwacht. Szenen wie aus Tarantinofilmen wechseln mit Figurenkompositionen wie aus Carravagiogemälden.

Wunsch nach Erlösung

Eine Zuschauerin tuschelt ihrer verständnislosen Nebensitzerin zu: „Es ist seit Jahrhunderten eigentlich immer das Gleiche. Wenn Sie sich im Museum Munchs Schrei, Gemälde von Francis Bacon oder mittelalterliche Höllendarstellungen anschauen, werden Sie dasselbe finden wie hier: die gequälte Seele des Menschen und den Wunsch nach Erlösung.“

Die Qual ist spürbar, aber man fragt sich, wo eigentlich die Erlösung bleibt. Denn trotz der Nähe zum Kinoformat inklusive aller Blockbuster-Referenzen wartet man vergeblich darauf, dass sich das Hollywoodversprechen auf ein Happy End einlöst. Es gibt keinen Bösen und keinen Helden, alle sind Verlierer, gefangen im eigenen Albtraum. Was tatsächlich viel über die Qualen der modernen Gesellschaft erzählt.

Es gibt „Im Stein“ viele Räume, aber keinen Platz für Utopie. Dieses Stück ist dort verortet, wo selbst Liebe als letzte Hoffnung zur Ware verkommen ist. Kein Ziel existiert mehr, das Erlösung verspricht. Das Gefühl von Orientierungslosigkeit entsteht eindrucksvoll durch den ungewohnten Live-Film als Theater. Die klassische Bühnensituation schafft meistens einen Raum, der überblickt werden kann. Dieser Überblick weicht hier der Unfähigkeit, die projizierten Fragmente räumlich einzuordnen. Das Innere des Würfels scheint ein Labyrinth ohne Ausgang und Erbarmen zu sein.

So reflektiert und innovativ dieses Stück formal funktioniert, so reaktionär ist es in einem inhaltlichen Punkt. Schauspieler erliegen mal kindlichen Wahnvorstellungen, prügeln sich, bis alle blutdurchtränkt sind, und präsentieren im nächsten Augenblick grandiosen Slapstick. Die männliche Gequältheit hat viele Gesichter. Schauspielerinnen werden dagegen konsequent auf eine Opferrolle reduziert. Frauen schlagen hier nicht um sich, sondern leiden eindimensional naiv.

Gesellschaftskritik zu üben, ohne dieses Rollensystem zu hinterfragen, ist peinlich. Mindestens so sehr wie die Zuschauer, die am Ende des Abends das Kamerateam ausbuhen.

Das Weiterdenken von Formaten und Systemen ist wichtig, sonst kann man den Gedanken aufgeben, dass aus dem großen Stein, den wir Welt nennen, jemals ein besserer Ort wird.

JUDITH ENGEL