piwik no script img

Uns ist ein Kind geboren

NACHWUCHS Als Nikita da ist, wird schnell klar: Unser Kind hat das Downsyndrom. Eine Wahrheit, die schwer zu ertragen ist. Aber es gibt kein Zurück. Gut so. Dieses Kind mit den schönen großen Händen ist ein Geschenk

Keine Krankheit, nur anders

Die Besonderheit: Menschen mit Trisomie 21 (Downsyndrom, nach dem Arzt John Langdon-Down) haben ein Chromosom mehr, denn das 21. ist nicht wie gewöhnlich doppelt vorhanden, sondern dreifach. Die Ursache dafür ist ungeklärt. Mit zunehmendem Alter der Mutter steigt die Wahrscheinlichkeit. Downsyndrom ist keine Krankheit, sondern eine unveränderbare Besonderheit.

Das Leben: Neben körperlichen Merkmalen (geschwungene Augen, Vierfingerfurche an den Händen, Sandalenlücke an den Füßen) sind meist kognitive Fähigkeiten beeinträchtigt. Betroffene haben in Europa eine Lebenserwartung von über 60 Jahren.

Zum Lesen: „Außergewöhnlich. Kinder mit Down-Syndrom und ihre Mütter“. Paranus Verlag. www.down-syndrom.org

VON THOMAS GERLACH ILLUSTRATION BIRGIT METZGER

Um halb sechs am Morgen wird unser zweiter Sohn geboren. Blau angelaufen ist er, so blau, dass ich Angst bekomme. Dass Neugeborene blau sein können, habe ich gehört, aber so blau? Ich blicke zur Hebamme. Routiniert klemmt sie die Nabelschnur ab und reicht mir die Schere. Es ist offenbar alles in Ordnung. Ich schneide die Schnur durch.

Ein Wurm, dünne Schreie, zerfurchtes Gesicht. Er liegt auf dem Bauch der Mutter, mir kommen die Tränen. Nikita soll er heißen. Dascha, meine Frau, erinnert mich, eine SMS an die Oma im fernen Ural zu schicken. Vor anderthalb Jahren, beim ersten Kind, hatten wir das vergessen. Die Oma bangte. Heute soll sie die Erste sein. „Nikita geboren, Mutter und Kind wohlauf!“, tippe ich.

Eine Stunde später hören wir, dass er Trisomie 21 hat. Es ist Sonnabend, der 13. Juni 2009.

Nein, wir wissen es noch nicht mit letzter Klarheit, die liefert nur ein Gentest, aber der junge Arzt lässt wenig Platz für Hoffnung. Eigentlich lässt er keinen. Die Hebamme hatte behauptet, der Stationsarzt würde nur kommen, um sich Nikitas Blutzucker anzuschauen, die Werte seien etwas niedrig. „Wir sind hier schließlich ein Krankenhaus.“ Der Arzt hat Nikita wie eine Puppe auf einen Schrank gelegt, er hat ihn aus seinem Leibchen gepackt und schüttelt ihn wieder und wieder, wie man einen Bewusstlosen sachte schüttelt. Er schaut ihm ins Gesicht, streicht über Händchen und Beinchen, gerade so, als suche er etwas.

„Was macht er?“ Dascha ist misstrauisch geworden. „Mit dem Blutzucker ist eigentlich alles in Ordnung“, murmelt der Arzt, er ist an Daschas Bett gekommen. Doch es gebe andere Auffälligkeiten. Auffälligkeiten? „Hat Ihr Junge denn Ähnlichkeiten mit Ihrem ersten Sohn?“ Was ist das für eine Frage? „Vom Gewicht her sind die beiden doch identisch!“, entgegnet Dascha. – „Und sonst?“ – „Sie meinen die Augen?“– „Ja. Die sind sehr auffällig bei einem Gendefekt, Trisomie 21.“ – „Das ist nicht Ihr Ernst!“, entfährt es Dascha. Mir werden die Knie weich.

Warum wir? Keine Antwort

Sicher, uns waren Nikitas Augen aufgefallen, geradezu asiatisch geschwungen. Besorgt waren wir nicht. Sind Neugeborene nicht wie winzige Greise? Mit hutzeligen Körpern? Die Stirn, die Augen – das wird sich alles entfalten. Oder etwa nicht? Seit Minuten versuche ich, das schrumplige Kind, das der Arzt liegen gelassen hat, wieder anzuziehen. Je länger der Mann hinter mir redet, desto weniger gelingt mir das. Leibchen, Hemdchen und Schnürchen und mittendrin dieser zerbrechliche Leib – es ist wie ein Knäuel, und meine Finger wollen mir nicht mehr gehorchen. Ich kann es nicht fassen: Das Häuflein, das da vor mir liegt, hat das Downsyndrom.

Er könne uns leider wenig Hoffnung machen, redet der Arzt in unser Schweigen hinein. Alles spreche für Trisomie: die abgespreizten großen Zehen an den Füßen, die durchgehende Falte in beiden Handtellern, die heraushängende Zunge und die Mandelaugen. Natürlich sei das keine Diagnose, räumt er ein, „aber machen Sie sich mal damit vertraut“. Schon ist er weg.

Haben wir nicht gerade diese Nacht durchwacht? Hat Dascha nicht eben ein Kind geboren? Haben wir nicht Nikita seit neun Monaten bei uns? Zuerst als dunklen Punkt auf dem Ultraschallbild, dann mit Händen und Füßen? Haben wir uns nicht gefreut, als die Wehen einsetzten? Ist das nicht ein unglaublicher Moment, wenn ein Kind auf die Welt kommt? Heulen nicht alle Eltern, vor Schmerz, vor Glück und vor Dankbarkeit? Und jetzt schleicht sich ein Arzt wie ein Dämon herein und verkündet: Sie haben einen behinderten Sohn.

Weg von hier. Weit weg. Ich würde am liebsten alles stehen und liegen lassen. Lässt sich dieser Film noch einmal zurückdrehen? Lässt sich diese Nacht ungeschehen machen? Nein, lässt sich nicht. Ich bleibe. Wir bleiben. Ich habe den Kleinen immer noch nicht angezogen. Irgendwann steckt er in den viel zu großen Klamotten. Das Köpfchen wackelt, er schweigt. Ich lege ihn in dieser Plexiglasschale ab, packe ihn da hinein wie ein Bündel, das zu schwer für mich ist. Habe ich ihn vorwurfsvoll angeschaut? Er zittert.

Wer ist schuld? Niemand, sagen die Ärzte, das passiere, spontan, einmal bei etwa tausend Geburten. Warum? Keine Antwort. Warum wir? Keine Antwort. Sicher, ich hatte an Downsyndrom gedacht, wie wohl alle werdenden Eltern. Trisomie 21 ist die häufigste Genmutation. Doch das betrifft uns nicht, glaubte ich. Dascha ist 31 Jahre alt, das Risiko steigt erst mit 35 Jahren an. Warum sich Gedanken machen?

Die Ultraschalluntersuchungen bei Daschas Gynäkologen waren unauffällig. Der große Check beim Feindiagnostiker war es auch. Da zappelte dieses Wesen auf dem Bildschirm, mal als bloßer Schatten, mal sehr real mit Köpfchen, Wirbelsäule und Fingern. Und seine Händchen, die ruderten: Wartet nur! Und sein Herzchen hüpfte, und uns hüpfte es auch. Vorfreude.

Wir wollten Nikita. Unser erster Sohn Ilja sollte bald einen Gefährten bekommen. Wo Platz für ein Kind ist, reicht er doch auch für zwei. Die Großmütter waren nicht begeistert, als sie davon hörten. Sie dachten nur an die Mühe. Wir dachten an das Glück.

Zum Krankenhaus geht es durch einen Park. Ich schleppe mich über die Wege, schiebe den Wagen mit Ilja. Wer mich sieht, denkt wohl an einen Todesfall, nicht an eine Geburt. Die ersten beiden Tage liegen Dascha und der Kleine auf der Wochenstation. Ringsum müde, doch glückliche Mütter, gesunde Kinder, stolze Väter, weinende Tanten – und wir, wie Fremde auf einem Fest.

Das erhebende Gefühl, zum ersten Mal Eltern zu werden, kannten wir von Ilja. Als diesmal die Wehen stärker wurden und wir wieder hierherkamen, fühlten wir uns schon wie Stammkunden. Die zweite Geburt gehe schneller, sagten erfahrene Mütter. Also zügig das Kind geboren, zwei Tage auf der Station, und ab nach Hause – so war unser Plan.

Es gibt keine Hintertür

Stattdessen gibt es in einer Ecke nun das erste längere Gespräch mit einer Ärztin. Der neue Kurs: Dascha und Nikita werden auf die Intensivstation verlegt, man will den Kleinen untersuchen, ob es organische Defekte gibt. Kinder mit Downsyndrom haben oft Fehlbildungen, hören wir. Es wird Zeit, meine Eltern auf dem Dorf anzurufen. „Ihr seid wieder Großeltern geworden“, sage ich. „Alles in Ordnung?“ Ich sage: „Ja.“

Auf der Intensivstation bekommen Nikita und Dascha ein Zimmer für sich und bald einen Bildband hingelegt, über Kinder mit Downsyndrom und ihre Mütter. Keine plumper Wink mit dem Zaunpfahl der Oberschwester, eher eine Hilfe, es sind liebevolle, innige Fotos. Die Ärzte und Schwestern sind rücksichtsvoll. Nur um den einen Arzt machen wir einen Bogen.

Nikita hängt an Kabeln. In seiner Nase steckt ein Schlauch, durch den wird Muttermilch in seinen Magen gepumpt. Er kann wie viele Trisomie-Kinder schlecht saugen. Dascha übt mit ihm, so oft es geht, das Stillen. Zwei Schwestern vom Kinderpflegedienst stellen sich vor, sie werden zu Hause regelmäßig die Sonde wechseln. Wie lange? Sie zucken die Schultern, manchmal dauere es aber über ein Jahr. Der Genschnelltest bestätigt den Verdacht: Trisomie 21. Es gibt keine Hintertür mehr.

Nikita hat „deutlich klinische Stigmata für ein Downsyndrom“. An solche Sätze werden wir uns gewöhnen müssen. Der Entlassungsbrief des Krankenhauses windet in medizinischer Nüchternheit Fachwörter zu Girlanden. Wenigstens ist organisch alles in Ordnung. Jedenfalls fast: Zwei Löcher werden in der Herzscheidewand entdeckt. Doch Grund zur Sorge bestehe nicht, versichert man uns, mit großer Wahrscheinlichkeit wüchsen die bald zu. Wir wollen es gern glauben und machen uns auf den Weg. Es gibt auch so genug Fragen. Mit einem Wunschkind im Bauch sind wir ins Krankenhaus gefahren, mit einem Bündel an Problemen kehren wir heim.

Wenigstens sind wir vier nun zusammen. Der Alltag mit Nikita besteht aus zwei Dingen: Der Junge muss besser trinken, außerdem klappern wir Ärzte ab. Der Verwandtschaft wird reiner Wein eingeschenkt. Meiner 81-jährigen Mutter sage ich es langsam ins Telefon: „Downsyndrom.“ Das erweist sich als unnötig, sie weiß, was das ist. Auch die russische Großmutter wird informiert. Was haben sie für Bilder im Kopf?

In Russland werden Behinderte meist weggeschlossen, aus Scham. Und bei uns? In dem 300-Seelen-Dorf, aus dem ich komme, lebte ein geistig behinderter Mann. Hänschen war unser Dorftrottel. Täglich streifte er über die Feldmark und führte Selbstgespräche. Im Dorf zurück, versteckte er sich gern in der Bushaltestelle und onanierte – zur Belustigung der Traktoristen und zum Entsetzen der Mädchen. Förderung bestand bei Hänschen vor allem darin, dass er die vollen Körbe aus dem elterlichen Garten schleppte. Hänschen ist tot. Der nächste Behinderte, der nun dort auftaucht, ist Nikita.

Nach einem Monat hat Nikita sein Greisengesicht abgelegt, er trinkt aus der Brust, als ginge es um sein Leben, der Pflegedienst kann die Sonden bald einpacken. Wir stellen Nikita dem Kardiologen vor, dann dem Endokrinologen, der Logopädin, der allgemeinen Kinderärztin, der Ärztin im Sozialpädiatrischen Zentrum, der Augenärztin, der Physiotherapeutin und der Sozialberatung. Wir haben bei den Besuchen bald eine gewisse Routine. Während Dascha mit Nikita beim Arzt sitzt, gehe ich mit Ilja vor der Praxis spazieren.

Große Hände, kleines Herz

Der große Bruder hat den kleinen schnell akzeptiert. Wir kramen Fotos von Ilja hervor. Gibt es Unterschiede? Im Gegenteil, die beiden sehen sich immer ähnlicher. Und sie sehen uns ähnlich – mit oder ohne „Stigmata“. Eines Tages fällt mir auf, dass Nikita wirklich mächtige Hände hat. Ich freue mich und führe das auf die vielen Maurer und Heizer bei den deutschen Vorfahren zurück. Und ich selbst habe fünf Jahre als Traktorist in der LPG gearbeitet. „Das ist auch so ein typisches Zeichen für Trisomie“, stoppt Dascha meine Fantasie.

Eigentlich ist es schon egal. Die Trisomie beschäftigt uns nicht mehr jeden Tag. Dazu gibt es bei zwei Kindern zu viel zu tun. Das ist ein Vorteil. Wichtiger ist, dass Nikita, viel früher als Ilja damals, erst zu lächeln, dann zu lachen beginnt. Beim Lachen hat er ein typisches Downgesicht und ein lustiges dazu. Wir fahren zum ersten Mal zu meinen Eltern aufs Dorf. Es gibt wieder Normalität.

Doch nicht lange. Im August macht der Kardiologe uns klar, dass sich die Spalten im Herzen nicht schließen werden. Eine Operation sei notwendig, ein großer Eingriff, und zwar bald. Ende September wird Nikita im Deutschen Herzzentrum in Berlin aufgenommen. Das Zentrum ist eine Welt für sich. Eltern aus halb Europa kommen hier zusammen mit ihren großen, kleinen und ganz kleinen Kindern. Arabische Patriarchen, türkische Mütter, Russen aus Sibirien, Ukrainer, bosnische Familien, kroatische Ehepaare und natürlich Deutsche – die Sorge um den Nachwuchs eint sie alle.

Mütter und Väter sitzen schweigend auf dem Flur oder abseits in der „Eltern-Oase“, manche kneten unentwegt die Hände, andere telefonieren, wieder andere führen ihren geschwächten Sprössling spazieren, einen großen Tropf neben sich.

Ein junger Vater aus Brandenburg seufzt mir zu: „Ist schon schlimm!“ Ich nicke. Er ist mit seiner ganzen, vielköpfigen Familie gekommen, weil der Jüngste, selbst kaum älter als Nikita, an einer Herzklappe operiert wird. Mit zwei Autos sind sie angereist, sie werden so lange bleiben, bis die Schwestern ihr Brüderchen wie einen ganz kleinen Lord nach Hause geleiten.

Wir merken schnell, dass Nikitas Operation hier eher zu den leichten Fällen zählt. Als er in den Operationssaal gefahren wird, lacht er. Danach kommen für uns die furchtbarsten Stunden seit der Geburt. Was ist, wenn Nikita etwas zustößt? Ist sein Herz nicht so klein wie eine Walnuss? Was ist, wenn der Chirurg vor lauter Routine unachtsam wird? Haben wir nicht Papiere unterschrieben, die uns über alle Eventualitäten aufklärten, auch über Herzstillstand und Tod? Die Operation dauert sechs Stunden. Es gebe keine akute Lebensgefahr, sagt die Ärztin, als wir am Abend in der Intensivstation anrufen. Es habe etwas gebraucht, bis das Herz wieder zu schlagen anfing. Man müsse jetzt abwarten, „ruhen Sie sich aus“. Aber wie soll das gehen?

Die Nacht wird zur Tortur. Nikita ist jetzt seit dreieinhalb Monaten bei uns. Gab es nicht vorwurfsvolle Blicke? Trübsinnige Gedanken? Den Wunsch, die Zeit zurückzudrehen? Jetzt wollen wir die Stunden peitschen, dass sie wie im Fluge vergehen. Nach zwei Tagen wacht er auf, nach drei Tagen hängt er an der Brust. Als ich Dascha über die Schulter schaue, blickt er mich zum ersten Mal, müde noch, an. Seine Augen sagen: Na, hast wohl Angst gehabt? – Und wie! Er ist unser Held. Wir lieben ihn, wie man ein Menschenkind nur lieben kann.

Nicht gestellte Fragen

Ich lerne seinen Chirurgen kennen, einen älteren Herrn mit freundlichen Augen. Er heißt Vladimir Alexi-Meskishvili, kam vor zwanzig Jahren aus der Sowjetunion nach Berlin und ist als Chirurg eine Kapazität. Dascha sagt er beiläufig, dass er noch ein drittes Loch verschlossen habe. Nach der Operation hat er Nikita täglich besucht. Am liebsten würde ich Alexi-Meskishvili um den Hals fallen. Er hat das walnusskleine Herz geflickt. Ich sage: „Vielen Dank!“

Irgendwann hört Daschas Gynäkologe von der Trisomie und meldet sich. Er habe sich gleich mit dem Feindiagnostiker in Verbindung gesetzt, sagt er. Zusammen haben sie noch mal sämtliche Ultraschallaufnahmen überprüft, ob sich nicht doch Hinweise hätten finden lassen. Ohne Resultat. Er bedaure die Situation und wünsche uns Kraft.

Was wäre gewesen, wenn sie uns bei der Feindiagnostik eröffnet hätten, es gebe da einen Verdacht? Die zweite Hälfte der Schwangerschaft wäre zur Hölle geworden. Hätte es sie überhaupt noch gegeben? Trisomie ist ein Grund für Spätabtreibungen. Vermutlich hätten uns die Ärzte dazu geraten. Schätzungsweise neun von zehn Feten, bei denen Trisomie diagnostiziert wird, werden abgetrieben.

Abtreibung kam für uns nicht infrage, das war unsere Überzeugung – schon vor dem ersten Kind. Hätten wir uns dennoch überreden lassen? Weil es auf Unverständnis gestoßen wäre, wenn wir diese Möglichkeit nicht wahrgenommen hätten? Weil wir die Belastung gefürchtet hätten? Die Blicke? Weil es das Beste gewesen wäre? Auch für das Kind? Diese Fragen sind uns erspart geblieben. Pränataldiagnostik hat ihre Grenzen. Gibt es ein Anrecht auf ein „normales“ Kind? Gibt es nicht. Es gibt auch kein Anrecht auf ein 80 Jahre währendes Leben, nicht einmal auf Sonnenschein im Urlaub.

Dass Nikita mit besonderem Erbgut ausgestattet ist, führen wir auf seine Vorfahren zurück. Während sein deutscher Großvater im Sommer 1941 als junger Bursche in Weißrussland sowjetische Kriegsgefangene bewachte, wurde Nikitas russischer Opa als Kleinkind von Leningrad an den Ural gebracht. Bei der Blockade durch die Deutschen wäre er sonst verhungert. Und während der Vater seiner russischen Großmutter in Astrachan im Wolgadelta Rekruten ausbildete, damit sie gegen die Deutschen kämpfen, versteckte sich zu Kriegsende im damaligen Ostbrandenburg seine deutsche Großmutter als Siebzehnjährige tagelang vor der Roten Armee. Wenig später verlor sie ihre Heimat und ist nie dorthin zurückgekehrt. Wer dieses Erbe mitbekommt, braucht wohl ein Chromosom mehr. Eigentlich ist nicht Nikita die Ausnahme, sondern sein Bruder Ilja. Natürlich verfängt diese Begründung nicht bei Genetikern und Gynäkologen. Uns genügt sie.

Es gibt was geschenkt

Am dritten Advent feiern wir Nikitas ersten „halben“ Geburtstag. Wie war das, als er geboren wurde? Ungefähr so, als hätten wir einen Urlaub in Venedig gebucht, hätten uns Monate darauf gefreut, hätten Reiseführer gekauft. Dann stiegen wir ins Flugzeug – und landeten in Rotterdam. Man braucht Zeit, sich an Rotterdam zu gewöhnen.

Nikita schielt ein bisschen, hat in manchem eine lange Leitung und eine Narbe auf der Brust. Er hat länger in Krankenhäusern gelegen als ich und auch schon mehr Ärzte gesehen. Er hat wenig zu tun mit den properen Babys, die von den Titelblättern Dutzender Elternzeitschriften lachen, als könnte man solche Nachkommenschaft irgendwo bestellen. Doch es gibt nichts zu bestellen, nicht die Haarfarbe und nicht die Chromosomenzahl. Es gibt was geschenkt.

Am Morgen des dritten Advents liegt Nikita zwischen uns im Bett. Seine Maurerhändchen wandern über mein Gesicht. Er lacht. Warum? Weil er seit einem halben Jahr bei uns ist. Nicht er ist unser Wunschkind – wir sind seine Wunscheltern. Klugheit ist keine Frage der Lebensjahre. Verkehrte, schöne Welt.

„Was du den Weisen und Klugen verborgen hast, den Unverständigen hast du es offenbart.“ Dieser Satz aus dem Matthäus-Evangelium soll sein Taufspruch werden.

Auch die Großmütter haben dazugelernt. Die beiden Frauen, die sich untereinander kaum verständlich machen können, sind zum „Geburtstag“ nach Berlin gekommen. Sie blicken zu Nikita in den Stubenwagen, ihre Augen strahlen. Und plötzlich sehen die beiden nur noch das Glück – und wir auch ein bisschen die Mühe.

Thomas Gerlach, 45, ist taz-Schwerpunktredakteur. Lange hat er mit seiner Frau Dascha überlegt, ob er diese persönliche Weihnachtsgeschichte erzählen soll

Birgit Metzger, 30, ist freie Illustratorin. Sie hat einen Sohn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen