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Archiv-Artikel

Sesshaft werden in wenigen Sekunden

BÜHNE Für „Fluchtpunkt Berlin“ spielen SchülerInnen im Deutschen Theater Fluchtschicksale nach. Die Grundlage bilden Interviews mit ganz unterschiedlichen Menschen in Berlin, die ihre Heimat verloren haben

Ist Sesshaftigkeit ein Privileg oder der Normalzustand? Für viele ist sie nur ein Traum

VON JULIA AMBERGER

Mit meiner Eintrittskarte in den Grundkonflikt des Stückes zu geraten habe ich nicht erwartet. Aber das Ticket sichert mir einen gepolsterten Sitz in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Damit habe ich für zwei Stunden einen festen Platz. Aber was bedeutet das eigentlich? Ist Sesshaftigkeit ein Privileg oder der Normalzustand? Am Ende dieses Abend ist klar: Für viele ist sie nichts weiter als ein Traum.

Laut Programmheft von „Fluchtpunkt Berlin“ befanden sich 43,7 Millionen Menschen im Jahr 2011 weltweit auf der Flucht – und natürlich träumen viele davon, die verlorene Heimat wiederzugewinnen. Aber was, wenn keine Rückkehr mehr möglich ist? Wie verändert der Verlust von Heimat einen Menschen? Die Inszenierung von Tobias Rausch erzählt vom Leben als Flucht und reflektiert über das Gefühl, irgendwo „zu Hause“ zu sein. Dabei arbeitet der Regisseur nicht mit professionellen Schauspielern: Auf der Bühne agieren 18 Schülerinnen und Schüler im Alter von 14 bis 21 Jahren. Rausch hat „Fluchtpunkt Berlin“ mit ihnen in einem Workshop entwickelt.

Im Mittelpunkt stehen die Erinnerungen von Menschen, die ihr Zuhause verloren haben. Von Vertriebenen aus Schlesien. Von einer Frau, deren Wohnung durch einen Brand zerstört wurde. Von BewohnerInnen eines Braunkohledorfes in der Lausitz, das abgebaggert wurde. Und von Opfern des Erdbebens im italienischen L’Aquila vor drei Jahren.

Aber kann man sich auf Erinnerungen überhaupt verlassen? Ein Mädchen, die langen dunklen Locken zu Zöpfen gebunden, sitzt auf einer Schaukel, die von der Bühnendecke baumelt. Im Hintergrund Trümmer eines auseinandergebrochenen Hauses, Elektrobässe wummern aus Lautsprechern. „Kann mich mal jemand anschubsen?“, ruft das Mädchen immer wieder. Soldaten hätten ihre Mutter aus einem Bunker geholt, erzählt die junge Frau – und aus den Erzählungen der Mutter bastelt sie sich ihre eigene Realität. Angeblich habe es im Bunker eine Schaukel gegeben. „Ich habe das Bild genau vor Augen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es nicht doch im Fernsehen gesehen habe“, sagt sie. „Halloooo, kann mich mal jemand anschubsen?“

Inhaltliche Grundlage für das Theaterstück war ein Rechercheprojekt: Ein Team, bestehend aus Katja von der Ropp, Katharina Wessel und Natali Seelig, befragte 50 Menschen, die ihr Zuhause verloren haben. Die drei dokumentierten Gespräche im Flüchtlingscamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz, sie kontaktierten Hilfsorganisationen für Illegale und Mitglieder der Härtefallkommission.

Ein politisches Projekt sei das Theaterstück dennoch nicht, so Regisseur Rausch. Vielmehr gehe es ihm darum, den Begriff der „Heimat“ aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. „Je stärker Menschen sich an Traditionen klammern, desto mehr verschwinden sie“, sagt Rausch. „Die Kinder und Enkel von Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs gehen ins Museum, um sich über ihre Herkunft zu informieren.“

Dass die Fluchtschicksale von SchülerInnen erzählt werden, folgt einer inneren Logik: Sie sind selbst in einem Alter, in dem sie „flügge“ werden und „weg wollen von zu Hause“, so Rausch. Im Workshop hat er sie angeleitet, Interviews durchzuführen. Parcours-Trainer haben ihnen Sprungtechniken beigebracht, mithilfe derer sie die Flucht auch körperlich spürbar machen.

Neben den Fluchtgeschichten spielen die jungen Leute allgemeine Situationen, die den Konflikt zwischen Sesshaften und Eindringlingen zeigen. Etwa im Zug: „Ist hier noch frei?“, fragt ein Reisender, der ein Abteil betritt. Der Fahrgast nickt, macht ihm aber nur widerwillig Platz. Als einen Moment später ein Dritter um einen Platz bittet, blicken sich beide an, nicken und zucken mit den Schultern. „Hier wird aus dem Eindringling, der nur widerwillig das Gastrecht bekam, ein Sesshafter“, erklärt Rausch die Szene. „Dabei ist das Gefühl total absurd, sesshaft zu sein in einem Zug, in dem ständig Reisende kommen und gehen.“

Man muss die Leistung der jungen SchauspielerInnen bewundern. Das eindringliche Kreischen eines Mädchens, als es von seiner Adoptivfamilie von einem Bauernhof gezerrt wird, um in ein kleines Zimmer in der Stadt zu ziehen – wo doch die Tiere ihre einzigen Bezugspunkte sind. Der leere Blick eines Flüchtlings, der in einer Fernsehshow mit den Worten „Komm, erzähl den Leuten, wie unmenschlich du behandelt wurdest“ vorgeführt wird. Und schließlich der Moment, in dem sich die SchauspielerInnen selbst darüber streiten, wie schwer es ist, Geschichten über „Flucht“ und „Heimat“ ohne Kitsch und Emotionalisierung wiederzugeben.

Genau das ist dem Autor gelungen. Vielleicht, weil er das Thema rein aus Interesse, ohne eigene Fluchtgeschichte, angegangen ist. Darauf gekommen sei er durch ein Rechercheprojekt über das Oderhochwasser von 1997, so Rausch. Dabei habe er auch mit einer Familie aus dem Oderbruch gesprochen, die ihr Haus verloren habe: „Da war nicht nur der materielle Verlust. Irgendetwas war unrettbar verloren, und dieses Etwas hat mich fasziniert“, sagt Rausch. Für ihn selbst sei Heimat ein Wort gewesen, als er noch in einer westdeutschen Kleinstadt lebte. Jetzt, so Rausch, „ist es für mich ein Wörterbuch“. Ein Wörterbuch voller Begriffe und Konnotationen – die „Fluchtpunkt Berlin“ in ganz persönlichen Geschichten durchdekliniert.

■ „Fluchtpunkt Berlin“. Kammerspiele im Deutschen Theater, 9., 10. und 30. 1. sowie 15./26. 2.