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Archiv-Artikel

Skizzenhafte Jedermanns

THEATER Marianna Salzmann ist eine junge, vielversprechende Dramatikerin. In Mannheim hatte ihr Stück „Hurenkinder – Schusterjungen“ Uraufführung

„Wenn du einschläfst neben einer Verrückten, hast du keine Angst, dass sie dich erwürgt?“

VON ISABEL METZGER

Die Generation zwischen 20 und 30 leidet unter einem Luxusproblem: Krieg hat sie nie miterlebt. Vor ihr liegt eine unbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten. Die Freiheit droht sie zu erdrücken. In ihrem in Mannheim uraufgeführten Stück „Hurenkinder – Schusterjungen“ zeichnet die junge Autorin Marianna Salzmann das Bild einer Generation ohne Ziele und Mumm. Dabei gelingt ihr ein gewitztes, erfreulich komplexes Psychogramm, das ohne Zeigefinger und Lehrformel auskommt.

Der Versuchsaufbau: Irgendeine WG, irgendwann in der Jetztzeit. Drei Hauptfiguren ohne Herkunft, von denen man kaum mehr als den Vornamen kennt, haben sich in einem maroden Altbau eingenistet. Vermieter Tschech, der arbeitslose Fotograf Bruch und die Zugbegleiterin Ali leben einen gemeinsamen Alltag voller Belanglosigkeiten zwischen Sex, Fernsehen und Essen. In den Teppichen modert der Staub, auf der Veranda stapelt sich das Geschirr. Draußen vor der Tür bricht währenddessen Chaos aus: Im Park werfen Demonstranten mit Steinen, die Polizei prügelt Menschen nieder, eine Frau stirbt. Tränengas dringt durch die Ritzen. Die schützenden Mauern schließen sich um ihre Bewohner. Allein Ali will ausbrechen und verstehen, was es mit jener rätselhaften Revolution auf sich hat. Tschech versucht immer verzweifelter, die entflohenen Vögel einzufangen und in den hausgemachten Käfig zurückzuholen. Doch die WG zerbricht.

In der Sprache der Setzer stehen Hurenkinder und Schusterjungen für einen Fauxpax im Satzbild: für einzelne verlorene Zeilen am Ende oder Anfang einer Seite. Ein Hurenkind, sagt man, weiß nicht, wo es herkommt, ein Schusterjunge nicht, wo er hingeht. Es sind Menschen ohne Leidenschaften, die uns da gegenübertreten. Vor allem aber Menschen ohne Mut. Im Wort „Leidenschaft“ steckt auch „Leiden“. Nur wer wagt und die Mauern verlässt, kann Ziele verfolgen. Das schmeckt nicht jedem.

Tschech will keine Veränderungen. Er gefällt sich in der Herrscherrolle über das WG-Territorium. Er ist der beinahe schon klischeehafte, geldgesteuerte Hallodri, der mit selten mehr als einer ranzigen Unterhose und Bling-Bling-Kette auf der Bühne – ja, was eigentlich tut? Abhängt? Blumen gießt? Sich einen runterholt? Die anfangs noch beschauliche Lethargie schließt sich den Bewohnern wie eine Schlinge um den Hals.

Wie Marionetten

Salzmann gehört zu den aufstrebenden Autoren der Theaterszene. Ihre Stücke waren in Berlin im Ballhaus Naunynstraße und am Deutschen Theater zu sehen. Für ihr Stück „Muttermale Fenster blau“ erhielt sie 2012 den Kleistförderpreis. Die menschlichen Beziehungen sind ihr Spezialgebiet. In „Hurenkinder – Schusterjungen“ entwickelt die 1985 geborene Autorin, die an der Berliner Universität der Künste Szenisches Schreiben studiert hat, pointierte, temporeiche Dialoge. Man spürt, dass es ihr Vergnügen bereitet, die Figuren an der Strippe wie willenlose Marionetten tanzen zu lassen.

Manchmal droht sich die Handlung im Einerlei zu erschöpfen, etwa wenn wir zum wiederholten Mal Ali und Tschech im Bett oder am Küchentisch zusehen. Die Figuren sind bei Salzmann keine überzeichneten Karikaturen, sondern skizzenhafte Jedermanns. Trotzdem vermag die Inszenierung unter der Regie von Tarik Goetzke ihnen Tiefe zu verleihen – besonders Ali, die im Stück eine starke Veränderung erlebt. Das ist nicht zuletzt der Schauspielerin Anne-Marie Lux zu verdanken, die mit der Aufführung in Mannheim ein überzeugendes Bühnendebüt gibt: Mal räkelt sie sich ergeben-lasziv vor Bruch, mal rennt sie wie ein gehetztes Reh über die Bühne („Kaffee, kalte Getränke, Snacks? Hier noch ein Kaffee?“), mal rebelliert sie gegen Tschech und mimt mit überdrehter Stimme die tollgewordene Insassin („Wenn du einschläfst neben einer Verrückten, hast du keine Angst, dass sie dich erwürgt?“).

Das Stück spielt zwar an keinem genau umrissenen Ort, doch zumindest hier und heute in Deutschland: Europa ist unterschwellig allgegenwärtig als Idee mit diffusem Begriff von Freiheit. Der Bezug wird kaum klar und bleibt dem Zuschauer so abstrakt wie den Figuren. Die wiederum sind glaubhaft. Die Männer bleiben oft blass und lethargisch. Das passt gut. Alte Herrschaftsformen funktionieren nicht mehr. Auf den Straßen, bei den Demonstrationen dominieren Mütter. Die Väter sind abwesend. „Alles, was versucht, Vater zu sein, hat verloren“, konstatiert Ali. Doch eine Heldin ist sie nicht. Wo Bruch der nötige Schneid fehlt, da mangelt es ihr an Sinn. Sie bricht aus dem heimeligen Gefängnis aus – aber wohin und zu welchem Zweck? Der Freiheitsbegriff bleibt substanzlos. Ein konsequentes Ende.