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Archiv-Artikel

Wie ich Teil der Weltgeschichte wurde

TAZ-SERIE MAUERFALL (TEIL 1) Der Abend, an dem Geschichte geschrieben wurde. Und wie es sich anfühlt, wenn man – wie unsere Autorin – ganz nah dran war und dennoch davon nichts mitbekam

Marina Mai

■ 53, langjährige taz-Mitarbeiterin. 1989 arbeitete sie an einem Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften der DDR. Im Sommer 2014 wechselte sie beruflich in den Asylbereich. Zwei Jahre nach Mauerfall wurde ihre heute erwachsene Tochter geboren.

VON MARINA MAI

Als in Berlin die Mauer fiel, saß ich im Theater und bekam nichts mit. Kurz nach Beginn der Vorstellung huschte meine Freundin noch auf ihren Platz neben mir im Rang im Berliner Ensemble. „Ich habe noch ferngesehen, wollte hören, was der Schabowski sagt“, entschuldigte sie ihre Verspätung. Dabei kam meine Freundin eigentlich immer zu spät. Daran war nichts besonderes. Warum hatte sie sich heute so eine originelle Begründung einfallen gelassen, fragte ich mich. Und halblaut sagte ich: „Was soll der schon sagen?“ Doch auch meine Freundin war in diesem Moment noch nicht im Bilde. Sie hatte die Pressekonferenz nicht zu Ende gesehen, in der der Sprecher des SED-Politbüros, Günter Schabowski – mehr aus Versehen – die DDR-Grenzen für geöffnet erklärte.

Im Theater gab es ein sowjetisches Stück aus den 1920er Jahren. Man merkte dem Geschehen im Theater nicht an, was zur gleichen Zeit wenige Hundert Meter weiter von uns entfernt geschah. In der Erinnerung an diesen Abend Jahre später, beharrte meine Freundin immer wieder darauf, dass die Garderobenfrauen nach der Vorstellung ganz besonders schnell die Mäntel ausgegeben hatten. Mir war das nicht aufgefallen. Bis heute bleibt zwischen uns die Frage strittig, ob die bereits von der Mauereröffnung wussten und schneller arbeiteten, um zu einem Grenzübergang zu gehen.

Zu Hause legte ich die Arbeitsmaterialien für den kommenden Tag zurecht. Am 10. November 1989 fand an dem Historischen Institut, wo ich damals arbeitete, eine lang geplante Veranstaltung statt, und ich war für die formal-organisatorische Seite zuständig. Ich blätterte noch einmal die Unterlagen durch, bevor ich ins Bett ging. Eher beiläufig schaltete ich den Fernseher ein. Im SFB lief eine Reportage über Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben im Westen waren und auf dem Ku’damm vor Freude schrien. Das ganze wirkte auf mich, die die Nachricht dazu nicht kannte, als sensationshaschend. Was soll das, fragte ich mich? Schließlich gehen Menschen seit Wochen über die Botschaften in Prag und Budapest in den Westen. Ich packte meine Unterlagen ein und ging ins Bad.

Als ich das Nachthemd anzog, begann eine Nachrichtensendung. Das dürfte gegen Mitternacht gewesen sein. Erst jetzt erfuhr ich dass die Mauer auf war!

Ich gehörte nicht zu den Leuten, die dieses Ereignis herbeigesehnt hatten. Der Herbst 1989 war auch für mich eine intensive Zeit gewesen. Wenige Tage zuvor, am 4. November, hatte ich mit rund einer Millionen DDR-Bürgern auf dem Alexanderplatz demonstriert. Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit waren die Forderungen der fantasievollen Demo, die mir so etwas wie Flügel verliehen hatte. Wie bei vielen Menschen und auch der Mehrheit der Redner dort kreisten meine Gedanken aber um Reformen innerhalb der DDR, nicht um deren Abschaffung. Klar, wollte ich „den Westen“ – wie ich mich damals ausdrückte – mal sehen. Aber ein Spaziergang über den Ku’damm, eine U-Bahn-Fahrt, und vielleicht ein Eis hätten mir gereicht. Ich wäre in die DDR zurückgekehrt.

Und: Als ich am späten Abend jenes 9. November von der Maueröffnung und den Menschenmassen erfuhr, die auf den Weg in „den Westen“ waren, kreisten meine Gedanken eher um Alltägliches. Ich war viel zu dicht dran an den Ereignissen, um zu begreifen, dass an diesem Abend Weltgeschichte geschrieben wurde. Wie lange würde die Mauer überhaupt offen sein? Ein Wochenende lang? Oder einen Monat? Würde die Maueröffnung nicht die Veranstaltungsreihe durcheinanderbringen?

Ich beschloss, ganz besonders früh zu unserem Institut zu fahren, weil ich etwas von überfüllten S-Bahnen ahnte. Würden alle Referenten rechtzeitig ankommen? Tatsächlich fingen wir mit erheblicher Verspätung an. Meine Zeitplan geriet aus dem Ruder. Ich erinnere mich an eine Kollegin aus Leipzig, die so froh war über ihre seit Wochen angemeldete Dienstreise nach Berlin. „Nach dem Kolloquium schaue ich erst mal über die Mauer.“

Ein Referent hatte kürzlich seine Dissertation über ein abstraktes historisches Thema verteidigt und stellte sie vor. „Ich werde über das Thema reden, das mich die letzten drei Jahre am meisten gefesselt hat“, begann er seine Ausführungen. „Aber ich tue es in einem Moment, in dem Weltgeschichte geschrieben wird, und meine Gedanken sind eigentlich ganz woanders.“

Da war es: das Wort „Weltgeschichte“. Zum ersten Mal in diesem Herbst. Ich, die ich mich damals beruflich mit Geschichte befasste, hatte erst die Anregung des Kollegen nötig gehabt, um die Nachrichten im Fernsehen, den Rücktritt Erich Honeckers, die Erlebnisse auf Demonstrationen nicht nur als meinen Alltag zu sehen, sondern als erlebte Geschichte.

Irgendwann hatten die Referenten ihre Manuskripte verlesen. Niemand hatte Diskussionsbedarf. Das war für eine wissenschaftliche Veranstaltung ungewöhnlich. Wissenschaft war in der DDR, zumindest teilweise, ein Ort, an dem freie und lebhafte Diskussionen stattfinden durften und stattfanden. Und an meinem Institut wurde oft kontrovers diskutiert. Ich hatte das genossen und meinen Arbeitsplatz als eine Insel erlebt, auf der einiges gesagt werden durfte, was andernorts unmöglich war.

Das Mittagessen, das ich in der Kantine bestellt hatte, wollte kaum jemand haben. Die Wissenschaftler zog es woanders hin: Auf eine Demonstration für die Freiheit der Wissenschaft, die auf dem Gendarmenmarkt stattfand. Und natürlich: auf die andere Seite der Mauer.

Auf der Bornholmer Brücke sah ich die Menschenmassen, die in „den Westen“ strömten. Ein wenig war mir, der Individualistin, dieser Herdentrieb suspekt. Aber schließlich siegte die Neugierde und ich floss mit den Menschenmassen in den Wedding. Vor einem Gründerzeithaus scherte ich aus aus dem Menschenfluss: Das Haus hatte dieselbe Architektur wie mein Zuhause in Treptow, fand ich. Und das war mir sympathisch.