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Archiv-Artikel

Auf „Tin Drum“ hatte die Welt gewartet

AUFTRITTE Günter Grass versetzte deutsche Diplomaten in Alarmzustand, galt anfangs als Gefahr für die guten Sitten und redete sich später um Kopf und Kragen. Doch er hatte das Wohlwollen des Publikums, vor allem im Ausland

Gedenken an Grass

■ Die Beerdigung soll nach Auskunft des Behlendorfer Bürgermeisters Andreas Henschel im engsten Familienkreis an seinem Wohnort stattfinden. Grass war am Morgen des 13. April im Alter von 87 Jahren in einem Lübecker Krankenhaus an den Folgen einer Infektion gestorben. Mehr als ein Vierteljahrhundert hatte Grass am Rande des Dorfes im Kreis Herzogtum-Lauenburg gelebt, etwa 20 Kilometer südlich von Lübeck.

■ Eine offizielle Gedenkfeier ist für Anfang Mai im Lübecker Theater vorgesehen. Termin und Inhalt werden noch mit der Familie abgesprochen.

■ Fernsehsendungen: Samstag, SWR, 21.50 Uhr, Hellmuth Karasek über Grass bei Frank Elsners „Menschen der Woche“; Sonntag, SWR, 9.45 Uhr: „Schrieb ich Buch nach Buch“, Wiederholung einer Dokumentation mit und über ihn. Und im Netz: grass-haus.de

VON CHRISTOPH BARTMANN

Günter Grass und Amerika, Grass und Polen, Grass und Indien, Grass und Israel, Grass und X. Über jede dieser Wirkungs- und Beziehungsgeschichten könnte man ein eigenes Buch schreiben, oder man hat es schon getan. Wer international so viel kritische Masse erzeugt hat, der kann wohl als Weltautor gelten. Mit seinem ersten Buch wurde Günter Grass zum Weltautor, und er blieb es lebenslang. Umstritten war er vor allem im eigenen Land, im Ausland aber wurde er geliebt, und weder seine späten Enthüllungen noch manches schwächere Werk nahm man ihm dauerhaft übel.

Weltautor wird man nicht einfach, indem man Bücher schreibt, die sich weltweit verkaufen. Zum Weltautor muss man geboren sein, man muss ein Talent zum Ruhm haben, man braucht ein ausgeprägtes Selbst- und Sendungsbewusstsein und natürlich überall Helfer, Agenten und Herolde. Als Grass 1959 mit der „Blechtrommel“ debütierte, hatte die Welt offenbar gewartet auf einen linken, frechen, jungen Trommler aus Deutschland, der mit der Vergangenheit brechen und sein ganz anderes, frischeres Deutschsein in der Welt ausprobieren wollte. Und Grass, erpicht auf Ruhm und Wirkung, ließ sich nicht zweimal bitten.

Die Helfer standen schon parat. Aus New York schreibt am 24. März 1959 Kurt Wolff, der schon Franz Kafkas und Karl Kraus’ Verleger gewesen war: „Freunde haben mich auf einen Roman von Ihnen aufmerksam gemacht: ‚Die Blechtrommel‘. Ich möchte ihn gern im Hinblick auf eine eventuelle englische Ausgabe lesen.“ Mit Kurt Wolff, seiner Frau Helen und dem Übersetzer Ralph Manheim war das Kernteam gefunden, das die „Tin Drum“ alsbald zur literarischen Sensation in den USA und rund um den Erdball beförderte. Dem verlegerischen Glücksfall gesellte sich Grass’ Freude am öffentlichen Auftritt zur Seite. Zu einer Zeit, in der Lesereisen ins Ausland noch eine Seltenheit waren, gastierte Grass schon in Kopenhagen (1961 mit Enzensberger) und sehr bald auch in New York (1965 mit Uwe Johnson, dem er sogar den Flug spendierte). Von 1961 an sei er „freier Mitarbeiter des Goethe-Instituts“ im Auslandseinsatz gewesen, gab Grass später einmal zu Protokoll. Die Mitarbeit hörte nicht mehr auf. Mit bloßem Lesen vor Publikum war es schon in der Frühzeit selten getan. Grass diskutierte, rezitierte, erregte, stritt und versöhnte sich auf der Bühne und pflegte, lange Zeit, bevor es dafür ein Wort gab, die Kunst der literarischen Ein-Mann-Performance mit größerer Verve als irgendwer. Dass er bei allem Ruhm für seine Leser stets nahbar blieb, machte seinen Nimbus erst komplett.

Es gab Kollegen, die mit Grass das Generationenprojekt vom Schriftsteller als öffentlichem Intellektuellen teilten: Enzensberger, Hochhuth, Böll, Frisch, Peter Weiss und andere. Aber keiner schaffte es wie Grass, diesen Anspruch auch zu verkörpern und ihn durchzuhalten, ihm ein Gesicht zu geben, das weniger das eines Intellektuellen war als das eines Handwerkers. Grass’ grenzüberschreitende Popularität wurde gestützt von einer Physis, in der sich Kampfbereitschaft und Lebensfreude trafen. Im Kalten Krieg war Grass’ Weltgeltung dennoch zwangsläufig eine halbe Sache. In der DDR machte sich der Sozialdemokrat Grass früh und anhaltend unbeliebt, etwa durch sein Eintreten für den Republikverräter Uwe Johnson. In Polen dauerte es zwanzig Jahre, bis die „Blechtrommel“ endlich erscheinen durfte, und auch dann erst nur im Selbstverlag. Was die Zensoren nicht aus politischen Gründen verdammten, das war immer noch geeignet, als Obszönität gebannt zu werden. Vielleicht hat die polnische Milde mit Grass’ späten Waffen SS-Enthüllungen auch damit zu tun: Man wollte sich die Freundschaft mit ihm kein weiteres Mal von der Politik verderben lassen.

Auftritte von Grass im Ausland versetzten nicht nur deutsche Diplomaten regelmäßig in Alarmzustand. Man wusste ja nie, wie der Abend enden würde. So war es schon in den sechziger Jahren, als Grass’ Literatur noch weithin als Anschlag auf die guten bürgerlichen Sitten betrachtet wurde. Nicht viel anders war es in den Achtzigern, etwa als Grass gemeinsam mit Stefan Heym in Brüssel auftrat. Mit einigen heute harmlos anmutenden Bemerkungen über die geteilte deutsche Kulturnation versetzte er Franz Josef Strauß und Helmut Kohl derart in Rage, dass die beiden der auswärtigen Kulturpolitik fortan einen Maulkorb verpassen wollten. Damit waren sie bei Grass an der falschen Adresse. Politischer Gegenwind führte ihm frische Kräfte zu.

Bei manchem Auslandsauftritt, besonders nach der Wiedervereinigung, redete sich Grass so verlässlich um Kopf und Kragen, dass man gern manchmal selbst die Notbremse gezogen hätte. Den Polen riet er in den neunziger Jahren aus alter Freundschaft, es mit der Westbindung nicht zu übertreiben und stattdessen doch die Nähe zu Russland zu suchen.

Und bei einer Veranstaltung mit Pavel Kohout in Prag, etwa 1992, an die mich gut erinnere, verstörte er das Publikum mit dem Hinweis, den Deutschen sei noch immer nicht zu trauen: Wie schon zu Hitlers Zeiten nähmen sie gern die ganze Hand, wenn man ihnen nur den kleinen Finger reichte. Zu jener Zeit stand der Geist zwar nicht mehr links, aber man musste trotzdem viel Mut aufbringen, um Grass zu widersprechen.

Wahrscheinlich war der frische „Blechtrommel“-Ruhm der frühen sechziger Jahre der heiterste Abschnitt von Grass’ Laufbahn: Ein großer literarischer Erfolg wurde flankiert von gut dosierten politischen Interventionen. In der Folge verhielt es sich dann oft andersherum. Das wachsende Engagement für die SPD ging einher mit Büchern, die weniger überzeugten („Örtlich betäubt“, „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“) und auch im Ausland weniger Anklang fanden.

Aber das war nicht wirklich schlimm, denn Grass blieb, trotz „Butt“ und „Rättin“ und „Unkenrufen“ und den wechselnden Debattenangeboten, die diese Werke mit sich brachten, stets und vor allem der Autor der „Blechtrommel“. Die brauchte Jahrzehnte, bis sie die Welt umrundet hatte, und ihr Ruhm wurde durch Schlöndorffs Film von 1979 noch einmal neu entfacht. Dieser Effekt überstrahlt, zumindest im Ausland, Grass’ mitunter unglückliche Bemühungen, in den späteren Jahren an die alte Diskurshoheit anzuknüpfen, ob es nun um die Kritik an der Wiedervereinigung ging oder um die Revision deutscher Erinnerungskultur wie im „Krebsgang“.

Man konnte erwarten, dass die späte Enthüllung seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS Grass’ Ruf schweren Schaden versetzen würde. Aber ganz so war es nicht (schädlicher waren in Teilen der Welt sicher seine Israel-Gedichte). Als Günter Grass im Jahre 2007 noch einmal in New York war und in der Public Library vor 800 Besuchern die Übersetzung seines Memoirenbands „Beim Häuten der Zwiebel“ präsentierte, sprang ihm Norman Mailer bei. „Hätte ich in seinen Schuhen gesteckt“, so Mailer damals, „wäre ich wohl bei der SS gelandet.“

Das wollen wir gern glauben, aber hätte Mailer mit der Bekanntgabe auch ein Leben lang gewartet und sich in der Zwischenzeit als Moraltrompeter betätigt? Nicht alle fanden Mailers Verteidigungsrede gleich überzeugend, und wenige nur waren von Grass’ Buch begeistert. Dennoch fand sich niemand, der Grass hätte demontieren wollen. Wie auch? Man war ja nicht durch investigative Recherche einer Lebenslüge auf die Spur gekommen. Vielmehr hatte der alte Mann von sich aus öffentlich gemacht, was bis dahin nur ein paar Spezialisten geahnt hatten. Darin konnte man, bei etwas Wohlwollen, doch auch Größe entdecken. Dieses Wohlwollen der Öffentlichkeit hat Günter Grass zeitlebens begleitet.

■ Christoph Bartmann ist seit 2011 Direktor des Goethe-Instituts in New York, schreibt Bücher und ist Literaturkritiker